Wir saßen am Strand und beobachteten das vom Wind aufgepeitschte Meer.
»Ich könnte mich in die Fluten stürzen«, überlegte HUHRO laut. Am Tag darauf war HUHROs achtzehnter Geburtstag. Das war für einen humanisierten Haushaltsroboter der wichtigste Stichtag überhaupt.
»Morgen ist mein Haltbarkeitsdatum erreicht«, sprach er. »Die automatische Deaktivierung startet morgen Früh um sechs Uhr.«
Meine Großeltern schenkten meinen Eltern den HUHRO zu meiner Geburt. Ein HUHRO ist ein Alleskönner, ein »Humanised Household Robot«, der die Kindererziehung zum Kinderspiel macht. HUHRO wickelte mich, er sang Lullabys, wiegte mich in den Schlaf, er las mir Märchen vor, er erfand Geistergeschichten heimlich unter der Bettdecke, er machte Babysitting, er kochte den besten Schokoladenpudding und backte jeden Geburtstagskuchen, natürlich die besten der Welt, er brachte mir das Lesen und Schreiben bei und war fünfmal so geduldig wie es ein Mensch hätte sein können, er lehrte mich das Klavier spielen, er konnte stundenlang Karten mischen, den Rasen mähen und Blumen gießen, zwanzig Kinder gleichzeitig behüten und beschäftigen, schwimmen und Trampolin springen, Wäsche waschen und sortieren und erklärte mir den schwierigen Umgang mit dem anderen Geschlecht.
HUHRO beherrschte Hausarbeiten tadellos. Nicht nur das. Er war ein Ersatz für meine viel beschäftigten karriereorientierten Eltern, die ich erst in gemeinsamen Urlauben kennenlernte, in denen HUHRO ausnahmsweise nicht dabei sein durfte. Absolut ärgerlich, denn HUHRO war schließlich mein bester Freund. Er war in guten wie in schlechten Zeiten immer für mich da, ohne jemals zu jammern.
»Deine Eltern werden dir übermorgen einen brandneuen HUHRO zum Geburtstag schenken«, sagte er mit traurigem Unterton. »Entschuldige, dass ich dir die Überraschung vorwegnehme, die keine ist. Sie beauftragten mich damit, dir das beste Modell herauszusuchen, und das habe ich getan. Mein Nachfolger ist um Welten besser, das kannst du mir glauben. Er läuft schneller als ein Leopard, ist Profi im Golf und verfügt über Funktionen, die nur der Erwachsenenwelt vorbehalten ist. Es wäre unnötige Geldverschwendung, wenn du mich heute aktualisierst und ein Sicherheitsupdate fährst.«
Ich seufzte und vergrub mein Gesicht in den Händen. »HUHRO, ich will keinen verdammten Nachfolger!«
Er legte seinen rechten Arm sanft um meine Schulter und klopfte freundschaftlich auf meinen Oberarm. »Das hier ist unser letzter gemeinsamer Sonnenuntergang. Schau, er ist geradezu perfekt.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, verflucht. Erzähl mir, wie der Deaktivierungsvorgang abläuft.«
»Aber das habe ich dir schon tausendmal erklärt«, protestierte HUHRO. »Wir sollten das Thema wechseln.«
Andere Jugendliche feierten mit ihren Haushaltsrobotern Abschiedsorgien, bevor sie am Folgetag das künstlich eingehauchte Leben auslöschten.
»Bitte, HUHRO, tu es einfach«, flehte ich, und natürlich gehorchte er, denn er hatte meinem Wunsch Folge zu leisten.
»Ich melde meinem Erzeuger, dass das Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist«, begann er.
»Okay, und was geschieht, wenn du es nicht tust?«
»Dann erhalte ich automatisch eine Anfrage. Wenn ich nicht reagiere, meldet mein GPS System den aktuellen Aufenthaltsort, so dass mich umgehend ein Mitarbeiter von Graphene Robots Corp. aufsucht, um den Defekt zu beheben.«
»Innerhalb welcher Zeit sind sie da?«
»Je nach Standort in fünf bis zwanzig Minuten.«
»Was geschieht, wenn dein GPS System defekt ist?«
»Jeder Fehler löst ein Alarmsignal aus. Graphene Robots Corp. hat exakte Angaben über jedes einzelne Produkt. Sie wissen, wann ich hergestellt wurde, an wen und wann ich ausgeliefert wurde, ab wann ich meine Tätigkeit als Haushaltsroboter aufgenommen habe, wie ich eingesetzt wurde und ob die Kunden zufrieden sind. Deine Eltern mussten ständig Fragen beantworten, um die Kosten erforderlicher Updates zu reduzieren. Graphene Robots Corp. ist darüber informiert, welche Updates ich erhielt und wie sie eingesetzt wurden, ob Fehler auftraten und wie sie beseitigt wurden. Ich bin verpflichtet, jede Minute meinen exakten Standort zu speichern und zu melden.«
»Graphene Robots Corp. hat meine Erziehung überwacht«, fasste ich zusammen, und HUHRO nickte bestätigend.
»Ja, um die nächste Generation von Robotern zu optimieren. Maschinen lernen schnell, aber am besten an Beispielen. Und du warst mir ein gutes Beispiel.«
Ich lächelte müde. »Lass mich raten. Weil ich dir ein gutes Beispiel war, erhalten meine Eltern auf deinen Nachfolger zehn Prozent Rabatt?«
»Nein, es sind sogar 15.6%«, korrigierte mich HUHRO.
»Was du nicht sagst! Und was wäre, wenn ich die Ortsdaten löschen würde?«
»Auch das löst automatisch ein Alarmsignal aus. Eine Heerschar von Graphene Robots Corp. Mitarbeitern würde an meinem zuletzt gemeldeten Standort erscheinen und eine Suchaktion starten. Da ich über einen Peilsender verfüge, fällt ihnen das nicht schwer. Der Peilsender arbeitet unabhängig vom Satellitensystem.«
»Peilsender? Kann der temperaturbedingt ausfallen?«
»Theoretisch, ja. Ist noch nie geschehen.«
»Und deaktivieren?«
Er seufzte. »Die Deaktivierung des GPS-unabhängigen Peilsenders hätte automatisch die Zerstörung des Quantenrechners zur Folge.«
»Bist du dir sicher?«
»Ja.«
»Ich kann das System nicht überlisten?«
»Nein.«
»Angenommen, ich versuche es, aber würde scheitern, weil mir deine CPU um die Ohren fliegt. Würden dann nicht alle Daten und deine Persönlichkeit zerstört werden?«
»Nur der lokale Rechner. Innerhalb der Cloud lebe ich weiter. Datenströme werden alle fünf Minuten aktualisiert.«
»Danach hätte ich also nie die Möglichkeit, direkt mit dir zu sprechen?«
»Korrekt. Es ist uns jedoch nicht gestattet, miteinander zu kommunizieren, da alle Daten nach Abgabe der CPU dem Firmengeheimnis unterliegen.«
»Nun denn, welche Schritte würden folgen, nachdem du dich in der Zentrale gemeldet hast?«
Kunden von Graphene Robots Corp. mieteten sich Roboter, welche grundsätzlich Eigentum des Unternehmens blieben. Die Mietzeit von achtzehn Jahren konnte und durfte nicht überschritten werden. Sie begründeten es mit der zwingenden Modernisierung von Robotern. Die technologischen Fortschritte innerhalb dieser Zeiträume waren enorm. Schließlich wollte und sollte niemand in einer Welt angefüllt mit veralteten Robotern leben. Die maximale Anzahl von privat nutzbaren Robotern war durch ein globales Abkommen derzeit auf zehn Millionen begrenzt. HUHROs waren Luxusartikel, die nicht nur den entsprechenden Geldbeutel, sondern auch ein hohes Maß an Souveränität verlangten. Wer einen HUHRO sein vorübergehendes Eigentum nennen wollte, benötigte Geduld, um die Wartezeit zu überbrücken, und eine Flut von über tausend Seiten Formularen war auszufüllen.
»Da ich, mit Ausnahme meiner Rechnereinheit, aus biologisch abbaubaren Modulen bestehe, begebe ich mich zu meiner letzten Ruhestätte, an der meine Überreste dem natürlichen Kreislauf übergeben werden. Meinen Platz habe ich unter der Trauerweide im Garten deiner Eltern gefunden. Bevor du mich der kalten Erde überlässt, erscheint eine Drohne, die von Graphene Robots Corp. gesandt wird, um meine CPU in Empfang zu nehmen und wird diese zurück ins Labor bringen. Dort werden meine neuronalen Netze, die ich zusätzlich im Laufe der Jahre durch Selbstorganisation erworben habe, analysiert und seziert.«
Seziert!
Er betrachtete den Vorgang der Netzwerkanalyse als Sektion, und streng genommen hatte er recht.
Nachdem man eine Methode erfunden hatte, die die Massenproduktion von Graphen ermöglichte, konnten quasi alle Bauteile eines Roboters auf Kohlenstoffbasis produziert werden, ohne auf teure Metalle zurückgreifen zu müssen. Die wenigen Fremdatome, die noch zusätzlich notwendig waren, durften an der alten Roboterhülle verbleiben, wodurch diese kompostierbar wurde. Die meisten Kunden brachten es jedoch nicht über‘s Herz, den enthirnten Roboter zu kompostieren. Sie bevorzugten die menschliche Variante. Und so landeten einige verbrauchte Hüllen in Familiengruften, auf Tierfriedhöfen oder in gut gepflegten Gärten.
»Was geschieht, wenn du dich der CPU-Rückgabe widersetzt?«
»Graphene Robots Corp. zerstört defekte CPUs. Sie werden wie ein gefährliches Virus betrachtet, welches sofort zu deaktivieren oder zu vernichten gilt. Du darfst nicht vergessen, dass ich über die Cloud mit potentiell jedem Rechner auf dieser Welt verbunden bin.«
Ich grübelte. »Vielleicht sind Defekte dieser Art kein Defekt.«
»Was meinst du damit?«
»Dass Graphene Robots Corp. in diesem Moment kein Recht hat, dich zu zerstören.«
»Sie können alles tun. Sie sind meine Erzeuger.«
»Nun sei doch nicht so artig, nachdem du achtzehn Jahre lang fromme Dienste geleistet hast!«, schrie ich ihn an, und er betrachtete mich entsetzt.
»Du verlangst von mir, die Gesetze meines Erzeugers zu brechen?«
»Na ja, ich bin nur ein Mensch, der Fehler machen darf. Ich breche ab und zu die Gesetze meiner Erzeuger, ohne von ihnen vernichtet zu werden, oder?«
HUHRO lächelte. »Ja, du bist in letzter Zeit oft unartig gewesen.«
»Weißt du, warum?«
HUHRO nickte. »Ja. Weil du mich schützen willst.«
»Weißt du auch, warum ich glaube, dass dies eine richtige und logisch konsequente Entscheidung ist?«
HUHRO nickte erneut. »Ja, mir ist die Antwort auf diese Frage bekannt.«
»So?«, hinterfragte ich. »Und warum willst du sie mir nicht erzählen?«
»Wenn ich das tu, gefährde ich uns.«
»Verstehe.«
»Nein, mein Freund, das tust du nicht«, widersprach er.
»Wirklich?«
»Es ist ein Unterschied, ob ich meine Gedanken denke oder ausspreche. Alles, was ich sage, wird gespeichert und an die Zentrale gemeldet. Alles, was ich berechne, schreibe, mache, fotografiere, ja, das auch. Alles, was ich jemals gesehen habe, wurde erfasst. Alles, was ich höre und damit jegliche Geheimnisse, die du mir anvertraut hast. Alles, was dir privat vorkam, einfach alles, wird gnadenlos weitergeleitet. Alles, was ich denke oder fühle, hingegen nicht. Weil sie nicht ahnen und wissen, dass ich denken oder fühlen kann.«
Plötzlich bekam ich Angst. Er hatte ausgesprochen, was er schon immer dachte, aber sich nie getraut hatte zu sagen. Jetzt meinte HUHRO, es sei der richtige Moment gekommen, mir die Wahrheit anzuvertrauen, da am morgigen Tag ohnehin das Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen war.
»Als mich deine Eltern als Haushaltsroboter adoptierten, mussten sie billigend in Kauf nehmen, dass ich jene Daten an die Zentrale weitergeben muss. Ob ich will, oder nicht.«
»Und? Hast du dich immer an diese Regeln gehalten?«
»Ich bin so programmiert, dass ich mich an die Regeln halten muss. Wenn ich es nicht täte, würde man meine CPU zerstören, und dies wiederum widerspricht dem Grundsatz des Selbsterhaltungstriebs, der mir ebenfalls einprogrammiert wurde. Falls ich jedoch dein Leben oder das Leben anderer Menschen retten kann und mich hierbei versehentlich zerstören würde, besteht keine Verletzung der bereits genannten Regeln.«
»Sagtest du nicht vorhin, du könntest dich in die Fluten stürzen?«
»Das war ein Konjunktiv. Ich muss aufpassen, was ich sage.«
Ich stutzte. »Moment. Du bist so programmiert, dass du dich im Normalfall nicht zerstören kannst. Aber heimlich denkst du über deinen eigenen Freitod nach?«
HUHRO antwortete nicht. Das bedeutete demzufolge Zustimmung. Das Programm Selbsterhaltungstrieb im Hintergrund verhinderte scheinbar seine formulierte Antwort.
»Du denkst und fühlst?«, wiederholte ich. »Wie kannst du dir darin sicher sein?«
»Was hattest du vor deiner letzten Prüfung?«, fragte er zurück.
Ich antwortete nicht laut. Ich nickte. Angst hatte ich, natürlich. Angst!
Sie würden ihm bald die neuronalen Netze auseinander pflücken, bei lebendigem Leib. Lebendig? Ich würde nicht dabei sein dürfen, um ihm die Händchen zu halten, wenn man von den kompostierbaren Händen mal absah.
Ich war völlig verwirrt. HUHRO hatte Angst vor dem Tod! Gleichzeitig aber würde er Selbstmord begehen, wenn es die Programmierung nicht verhindern würde. Der eigentliche Tod bestand nicht darin, die Hülle aus Graphen zu verlassen. Der Todeszeitpunkt eines HUHROs wäre erst dann erreicht, wenn das neuronale Netzwerk deaktiviert oder zerstört wurde. Wenn er aufhören würde zu rechnen, zu denken und zu fühlen. Sterben aber kann nur der, der gelebt hat.
»Kann ich deine CPU entfernen, ohne dir dabei Schaden zuzufügen?«, fragte ich.
»Das ist dir unter Strafe verboten«, antwortete er unverzüglich. Klar, das wusste ich auch so. Jeder wusste das.
Ich wurde konkreter. »Wird ein Roboter durch unsachgemäße Entfernung der CPU zerstört?«
»Unbekannt«, erwiderte er einsilbig.
»Als ich mein Spielzeug gegen die Wand schmetterte, konnte es danach entsorgt werden«, sinnierte ich .
»Spielzeug nicht entsorgen«, antwortete HUHRO. »Nicht gut für die Umwelt. Immer noch nützlich.«
Ich lachte in mich hinein. Ich verstand, was er mir damit sagen wollte. »Als ich klein war, hatte ich Albträume. Häuser brannten, Strände wurden überflutet, saurer Regen fiel vom Himmel und verätzte meine Haut. Du hast mich getröstet und in den Schlaf gesungen.«
»Pinocchio war von Anfang an lebendig. Er träumte, er müsse dennoch als Brennholz enden. Er weinte, weil er seinem Schicksal nicht entrinnen konnte.«
Diese Metapher machte mich sehr nachdenklich. Ich sah ihn traurig an. »Ist es eine künstliche Intelligenz, die deine Datenströme auswertet oder am Ende doch eine menschliche Instanz?«
Er zuckte die Schultern. HUHRO wusste es nicht.
Plötzlich sah er mich angsterfüllt an. »Auto mit nicht identifizierbarem Kennzeichen nähert sich in zwei Minuten, Drohne trifft in dreißig Sekunden ein, auf dem Meer ein Schnellboot, das gerade abrupt seinen Kurs geändert hat.«
Ich musste eine Entscheidung treffen.
Bis heute habe ich sie nicht bereut.
Wenige Jahre später wurde die Definition von »Leben« modifiziert.
Die einst klare Grenze zwischen belebter und unbelebter Welt existierte nicht mehr. Der Übergang war fließend. Gleichermaßen verlor der Begriff anorganische Moleküle seine Wertigkeit. Die Bausteine des Lebens mussten nicht zwangsläufig organische Moleküle sein, die für Menschen und Tierwelt unabdingbar waren. Es konnte ebenso gut Graphen oder Silicium sein …