Mozarts Weltformel – Des Himmels Töne

Wien, 2020

Die Wiener Staatsoper war bis auf den letzten Platz besetzt, obwohl für eine Konzertkarte tausend Euro verlangt und auf dem Schwarzmarkt die Hunderttausend geknackt wurden. Wenn das berühmte Konzerthaus kurzfristig räumlich hätte erweitern können, hätte sich ganz Wien in einen Konzertsaal verwandelt. Die Hälfte der Einkünfte war bereits für gute Zwecke verplant, der Rest für dringliche Investitionen.

Der Hype um dieses eine einzige Konzert führte sogar dazu, dass man den europäischen Staatshäuptern dringend davon abriet, an jenem Abend zu erscheinen, der das Gesicht der Welt dramatisch verändern sollte. Die Unerschrockenen widersetzten sich und taten es trotzdem.

Niemand glaubte an diesen Schmarren. Sie kamen aus Neugierde. Selbst diejenigen und vor allem diejenigen, die nicht einmal Fan von Mozarts Musik waren, bezahlten bereitwillig, um am Zauber der geheimen Weltformel teilzuhaben.

Ursprünglich sollten die bislang unbekannten Werke des Meisters vom berühmtesten und natürlich besten Pianisten vorgetragen werden. Als dieser die Notation, in geheimen Tresorräumen einer weltbekannten Bank sicher verwahrt, studierte, soll er weinend und verzweifelt das verlockende Angebot abgelehnt haben. Kaum hatte er flüchtend die Drehtüren passiert, wurde er von Unbekannten einkassiert und seither nicht mehr gesichtet. Ob dummes Geschwätz oder nicht, der Presse war es zu verdanken, dass die Story den Rang eines Mythos erzielte, bevor die Uraufführung stattgefunden hatte. Der Geschmack des Übernatürlichen hing in der Luft. Die Vernunftbegabten ließen sich freilich nicht irritieren. Einige von ihnen hatten vorsorglich mehrere Konzertkarten erstanden, um sie dann wie eine Aktie zu handeln. Die Börse munkelte, sie hätten absichtlich einen Mythos geschaffen.

Weder der Veranstalter noch die Stadt Wien oder sonst jemand hatte eine klare Vorstellung darüber, welche Art von Musik es war, die Mozart »Des Himmels Töne« getauft hatte. Nur eine Sache stand fest. 

Dem nächsten Kandidaten wurde auferlegt, die Notation frühestens zwei Stunden vor dem Auftritt studieren zu dürfen, ohne sie am Flügel gespielt zu haben. Dass hierfür blutige Anfänger nicht geeignet sind, lag auf der Hand. Von zehn Auserwählten war lediglich eine Person bereit, dieses sonderbare Risiko einzugehen.

Thauma Anastassopoulos betrachtete die Notenblätter in Anwesenheit von acht perfekt gekleideten und bewaffneten Sicherheitsleuten, die von Musik ebenso wenig verstanden wie Babys von Molekularbiologie. Die junge Frau verkörperte die geeignete Mischung, um die Ausführung des Vertrages sicherzustellen. Ihre Befürchtung, ebenfalls in Tränen auszubrechen, bewahrheitete sich glücklicherweise nicht. Dennoch sträubten sich ihr die Nackenhaare.

Nun, es war wahrhaftig kein Stück, das die Existenz von zwölf Fingern notwendig machte oder gar von Händen, die zwei Oktaven gleichzeitig überspannen. Auf den ersten Blick entdeckte sie weder obskure Wechsel noch zweihundertsechsundfünfzigstel Noten, die die Finger verknoten. Die Pedalführung dagegen schien dem Komponisten sehr wichtig zu sein. Alles in allem war es für Thauma absolut machbar, das Stück beim ersten Vortrag fehlerfrei vorzutragen. Sie hatte die Komposition im Kopf. Jede einzelne Note. Im Zweifel würde sie es anderswo noch einmal vortragen können, aber das war ihr Geheimnis, und das behielt sie für sich.

Thauma konnte sich als Kennerin von Mozart kaum vorstellen, dass ausgerechnet er dieses Stück komponiert haben sollte. Diesen Verdacht aber sprach sie nicht aus.

Ihr blieben noch achtzig Minuten zum Durchatmen.

Sie seufzte leise, wendete das Notenbündel und begann von vorn. Im ersten Durchgang hatte sie sich auf die technische Umsetzung konzentriert. Jetzt war die Emotionalität des Stücks zu bewerten und zu interpretieren. Nirgendwo gab es Anweisungen in der Art von »smorzando« oder »dolce e con affetto«. Als sie in die Seele des Werks eintauchte, wurde ihr bewusst, warum es solcher Anweisungen nicht bedurfte.

In ihrem Geist entpuppte sich die Komposition als umfassende Wahrnehmung. Noten verwandelten sich in Musik, Musik in Farben, Farben in Bilder, Bilder in Szenen, Szenen in einen Film. Nachdem sie sich durchgeblätterte hatte, blieben noch vierzig Minuten, in denen sie sich mental auf musikalische Reise begab.

Wien, 1791

Er starb zu früh, aber nicht an Armut oder Krankheit. Sein Geheimnis wurde gemeinsam mit ihm zu Grabe getragen und zum Vermächtnis einer erlesenen Gruppe von Eingeweihten. Allerdings nicht in Wien, wie allgemein angenommen. Vor und zu seiner Zeit als auch jetzt wirken Kräfte, die eine Entfesselung überirdischen Zaubers der Musik nicht gestatten. Neben Mozart gab es freilich andere Komponisten, die unbewusst die Formel des himmlischen Codes entzifferten. Er aber hatte die Essenz gefunden.

Die Anordnung der Töne, das Jonglieren dieser mit- und untereinander, die Kombinationen sämtlicher Eigenschaften, die ein Notenblatt hergibt, sind essentiell, um jene Schwingungen zu erzeugen, die subatomare Teilchen im CERN in die Vergangenheit oder sonst wohin verschwinden lassen. Es sind jene Schwingungen, die uns an die Musik des Himmels erinnern, weil sie Tore aufstoßen, die uns gewöhnlich verschlossen bleiben.

Mozart scherte sich wenig um Schwarze Löcher, Geisterteilchen und Neutrinos, über die erst hundert Jahre später gesprochen werden würde. Zu seiner Zeit fuhr man mit der Pferdekutsche, und von moderner Technologie war man gefühlte Lichtjahre entfernt. Er wusste nicht bewusst von der Existenz fraktaler Muster. Er fühlte sie im Sinne einer harmonischen Musik. Er experimentierte nicht mit Pi, Euler, Primzahlen oder dem goldenen Schnitt. Er verarbeitete mathematische Gesetze und Regeln unbewusst, um Werke zu schaffen, die Jahrhunderte später noch erhört und gehört werden würden, eben weil sie den Gesetzen des Universums folgten.

Wien, 2019

Wie viele Zufälle in einem Universum gestattet sind, legt der Meister vor Herausgabe des Universums selbst fest. An diesen kann im Nachhinein selten oder gar nichts geändert werden. Mozart war ein Fall von ganz besonderem Zufall. Er und seine Musik existierten. Die Wächter hatten zwar beschlossen, Mozart das Handwerk zu legen, aber bei der Vernichtung seiner himmlischen Komposition waren sie nicht gründlich genug gewesen. Die originale Notenschrift aus Mozarts Hand gelangte auf Umwegen zwei Jahrhunderte später in die Hände eines Kunsthändlers in Genf und von dort zu einem seiner besten Kunden, einem musikbegeisterten Physiker. Als Akuma das historische Schriftstück erblickte, lächelte und flüsterte er:
»Veni, vidi, vici.«

Der Physiker hörte im Geiste die Musik des Himmels, als er die Notation überflog.

Kaum war das Dokument in seinen Besitz übergegangen, plante er detailliert das weitere Vorgehen. Er überreichte eine Kopie an einen Studienfreund in Wien, der ihm für viel Geld versprach, ein besonderes Konzert auszurichten, um zu testen, welche Auswirkungen jene Musik auf ein unbedarftes Publikum hätte.

Wien, 2020

Akuma beobachtete das Spektakel nicht persönlich. Kleine Kameras zeichneten alles auf. Auch das unmerkliche Seufzen der talentierten Pianistin. Thauma Anastassopoulos setzte sich in einen bequemen Sessel, nippte ab und und zu an einem Glas Wasser und genoss das Schauspiel, das sich  ihrem inneren Auge darbot. Als würde Mozart persönlich sprechen, nein – als würde das Universum zu ihr sprechen. Währenddessen füllten sich die Reihen des gediegenen Konzertsaals.

Wien, 1791

Mozart fiel den Wächtern auf. Spätestens zu jener Zeit, als in einem Moment von größter Taurigkeit Melodien auf seinem Hammerklavier erklangen, die die Eigenschaften und den Verlauf der Raumzeit beeinflussten. Er hatte die Sprache des Himmels verstanden. Darüberhinaus besaß er die Frechheit, die Sprache des Himmels in Form von Noten zu sprechen, wenngleich jene kritischen Kompositionen das Gesicht der Öffentlichkeit niemals erblickt hatten. Sie geboten ihm eindringlich, jenes Stück niemals der Menschheit zu offenbaren. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, die göttlichen Melodien zu spielen, wenngleich in seinem persönlichen Reich niemand Ohrenzeuge wurde. Die Wächter kehrten zurück und drohten ihm mit dem Leben, würde er nicht aufhören, die gefährlichen Passagen zu spielen. Er tat, wie ihm geheißen. Kaum waren die Wächter verschwunden, übersetzte er sein Werk, das bis zu diesem Tage allein in seinem Geiste existierte, in Notenschrift. Als er die Arbeit erledigt hatte, fiel ihm der passende Name für das größte Werk aller Zeiten ein:
»Des Himmels Töne«.

Kurz darauf schlief er erschöpft ein, und als er wieder erwachte, waren sämtliche Notenblätter verschwunden. Erfüllt von Panik und Angst suchte er das kostbare Gut, das ihm gestohlen worden war. Seitdem verstrich kein Tag, an dem er nicht um sein Leben fürchtete. Und es sollte nicht lange dauern, dass die Wächter ihren Auftrag erfüllten. Selbst seine direkte Nachkommenschaft wurde im weiteren Verlauf auf Null reduziert.

Wien, 2020

Als Thauma Anastassopoulos den Konzertsaal betritt, entlädt sich die knisternde Spannung mit tobendem Beifall. Niemand hat eine blutjunge Pianistin in strahlend weißem Brautkleid erwartet. Wenig später ist ihr Gesicht in den sozialen Medien verewigt, tituliert als die Braut, die den Himmel erklingen lässt.

Thauma verneigt sich. Als Ruhe einkehrt, besteigt sie den Thron, berührt einmal sanft die Notation und dann …

Überirdische Stille überflutet die Menschen. Überwältigende Traurigkeit stellt sich ein. Tränen funkeln auf geschminkten Gesichtern. Ein jeder ist in seinem eigenen Trauma gefangen, das ihn fesselt. Niemand regt sich. Nur die Finger der Pianistin rauschen über die Tasten.

Das Präludium ist geschafft, und plötzlich erlischt im Konzertsaal das elektrische Licht. Allein die Bühne ist in flackerndes Kerzenlicht getaucht. Thauma spielt unbeeindruckt weiter. Sie ist der weiße Fleck im Universum, der um so heller erstrahlt, als dass er von Dunkelheit umgeben ist.

Thauma selbst wird zum Zentrum einer sich drehenden Lichtkugel, aus der warmes Licht strömt. Das Publikum erstarrt vor Faszination und schaut gebannt auf das hell leuchtende und schließlich bunte Farbenspiel, das Sicht in andere Dimensionen erlaubt. Die sich immer schneller drehende Kugel nimmt an Umfang zu, bis sie einen Durchmesser von fünf Metern erreicht. Ein Wind tobt durch die Kerzen, der sie schließlich auspustet. Notenblätter flattern davon, umkreisen die Kugel und scheinen zu verschwinden. Kleine Gegenstände folgen ihnen nach. Plötzlich wird die Rotation gestoppt. Unvermittelt schrumpft die Lichtkugel auf Punktgröße zusammen, bis sie schließlich verschwindet. Nach kurzer Finsternis ist der Konzertsaal wieder hell erleuchtet.

Als Thauma das Ende der Komposition erreicht, erwacht sie aus ihrer Trance und wird gewahr, was geschehen ist. Erschrocken blickt sie auf blutende Fingerspitzen herab. Zehntel Sekunden später ist sie nicht mehr dort, wo sie war. Die Wächter breiten wie Engel ihre Flügel aus. Das Licht des Vergessens löscht, was nicht für Menschen zugelassen ist.

Wien, 2020

Unerschrocken schaute sich Akuma das Debakel an. Nicht alle seiner kleinen Kameras waren in der Lage gewesen, die kritischen Szenen aufzuzeichnen. Zwei hatten dem unerklärlichen Sturm standgehalten. Weder das Erscheinen der Wächter, die Löschung der Gedächtnisinhalte noch das Verschwinden der Pianistin konnte ihn davor zurückschrecken, ein geheimes Experiment durchzuführen.

Entschlossen fuhr er an seine Arbeitsstätte, wo Teilchenbeschleuniger auf  Befehle warteten. Heute würden sie mit Musik gefüttert werden. Und dann geschah genau das, was die Wächter ursprünglich zu verhindern versucht hatten.

Wie aus dem Nichts heraus tauchte ein strahlend weißes Licht auf …

Mozarts Erbe wurde wiedererweckt. Das Tor zum Himmel öffnete sich.

Auf Akumas Bildschirm blinkte die Nachricht: »Heureka!«

Mozarts Klavierkonzert war die musikalische Fassung einer umfassenden Theorie der Quantengravitation:

»Mozarts Weltformel«

verfasst im Januar 2019