Diese Kurzgeschichten findest Du hier:
- Mars Mission Wisdom (Juli 2017)
- Herzstillstand im Paradies (April 2018)
- Die Gedankenfresser (Juni 2018)
- Wie der Krieg der Maschinen begann (November 2018)
- Galaktisches Asyl – Gravitationsschleuder (Dezember 2018)
- Mozarts Weltformel – Des Himmels Töne (Januar 2019)
- Was geschieht, wenn die Menschheit daran gehindert wird, ins Weltall zu expandieren? (Februar 2019)
- Die Maschine der Erkenntnis (April 2019)
- Der kompostierbare Roboter (August 2020)
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weitere Geschichten werden folgen.
Bleib gespannt und schau einfach regelmäßig vorbei, damit Dir keine Geschichte entgeht!
Übrigens, die Fortsetzungs-Story CAT-BASH ist ebenfalls ein Science-Fiction (kindergeeignet und tierlieb).
Mars Mission Wisdom
KKs Augen, mittlerweile quadratisiert, schauen angestrengt durch’s Objektiv. »Hey, ich dachte auf dem Mars würde Rauchverbot gelten!«
GG hält Beine gekreuzt mit Füßen auf dem Tisch kurze Verschnaufspause ein. »Soll das heißen, die Zigarettenfabriken haben ihren Firmensitz auf den Mars verlegt?«
KK justiert diverse Rädchen und stellt erneut mit größter Sicherheit fest, was sein kann, aber nicht sein darf: »Es qualmt.«
»Wie soll denn dort etwas brennen, wenn weit und breit keine Luft da oben ist?«, beschwert sich GG gelangweilt, und die Krümel fallen in den längst erkalteten Automatenkaffee.
KK kneift die Augen zusammen. »Ich habe nicht behauptet, es würde brennen. Es qualmt!«
»Die Köpfe der Astronauten, die sich den Kopf zermatern, wie sie einen Weg nach Hause zurückfinden?«, macht sich GG lustig.
»Der Qualm steigt bis in eine geschätzte Höhe von 150 Kilometern empor und erweckt den Eindruck einer schmalen Rauchsäule eines Indianerfeuers.«
»Das dürfte mehr als ein kleines Pfadfinderabenteuer sein!«, quittiert GG.
» … die aktuelle Kartographie vom Mars«, überlegt KK laut.
GG lacht. »Die grünen Marsmännchen feiern Grillparty?«
»Ich hab’s geahnt!«, pfeifft KK triumphierend.
»Was?«, grinst GG. »Dass sie nur Paprika grillen, weil grüne Männchen Vegetarier sind?«
KK bleibt ernst. »26 Kilometer hoch und 8 Kilometer tief.«
Das Grienen weicht einem erstaunten Ausdruck. »Sag das nochmal!«
»Der mutmaßlich größte Vulkan im Sonnensystem macht Ärger.«
GG greift zum Communicator. »Mars Mission Control, GG hier. Schalten sie zum aLigo. Bringen Sie in Erfahrung, ob Olympus Mons in den nächsten Tagen ausbricht.«
Die Kollegen hören ungläubig zu, bleiben wie gewohnt ruhig und kalkulieren bereits jetzt jegliche Auswirkung auf die milliardenschwere Mission. Die hundert bedeutendsten Gehirne arbeiten.
Das aLigo, auch als Advanced Laser Interferometer Gravitational-Wave Observatory bekannt, hat 2015 erstmals die Fusion zweier Schwarzer Löcher nachgewiesen und damit den Jahrhundertnachweis erbracht, dass sich Gravitationswellen im Weltall, wie von Albert Einstein vorhergesagt, mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten. GGs Auftrag wird in Sekundenschnelle bestätigt und bearbeitet.
»Und?«, fragt sich KK. »Verliert die Mars-Mission Wisdom ihre Landeerlaubnis?«
GG schluckt den letzten Bissen runter. »Sie werden ein paar Tage lang hübsche Fotos schießen und dann mit der langweiligen Nordhalbkugel vorlieb nehmen.«
»Das heißt so viel wie, die Jungs kehren wieder zurück, ohne das Marsgestein betreten zu haben«, übersetzt KK.
»Abwarten«, meint GG. »Der Copilot ist Vulkanologe. BB hat den seismologischen Code des kalifornischen Problems geknackt.«
KK zückt die rechte Augenbraue. »Den Ausbruch wird er trotzdem nicht verhindern können.«
Mittlerweile sind die Häuserpreise in L.A. sprichwörtlich ins Bodenlose gesunken. Hollywood wurde nach Absicherung der Küste am Golf von Mexico nach New Orleans verlegt.
»Die Explosion des Lebens. Allein der pyroklastische Strom muss apokalyptische Ausmaße haben«, freut sich GG. »Sie haben Glück, dass wir den Ausbruch vor der geplanten Landung entdeckt haben.«
»Wir?«, lenkt KK ein. »Ich hab es entdeckt!«
»Und ich bin dein Chef. Schon vergessen? Wir beide gehen in die Geschichte ein.«
Mission Wisdom wird ihrem Namen Rechnung tragen: systematisches Denken, Urteilen und Handeln. Ach, vergessen Sie es …
Herzstillstand im Paradies
Vortrag dieser Kurzgeschichte im Mai 2018 auf dem BDSÄ-Kongress in Wismar
http://bdsae.org/herzstillstand-im-paradies-cordula-seeboth/
Im Zentrum des heiligen Labyrinthes thronte Gott mit seinem Sohn und seiner Tochter. Aus dem Baum der Erkenntnis strömte unablässig das Licht der Welt und erstrahlte den himmlischen Garten. Dem Menschen ungekannte Farben übertrumpften sich gegenseitig und woben einen Teppich unendlicher Brillanz. Am Einlass des elfgängigen kreisförmigen Labyrinthes verwöhnten duftende Rosen in violetten Nuancen die Augen. Es folgten in Übereinstimmung mit den Gesetzen des Regenbogens in fließenden Übergängen blaue, dann grüne, gelbe, orangefarbene und zuletzt rote Farbtöne im Herzen. Allein der Erkenntnis war es erlaubt, in unbeflecktem Weiß in Erscheinung zu treten.
Gottes Sohn war erwachsen geworden. Es begehrte ihn nicht mehr, den verbotenen Ort namens Erde zu betreten. Er hatte seine Lektionen im göttlichen Kindergarten gelernt. Er hatte alles gesehen und erfahren, um das Werk seiner Eltern zu begreifen. Er war selbst mehrfach Mensch geworden, und musste erkennen, dass auch dies nichts nützte, nennenswerte Änderungen für einen längeren Zeitraum herbeizuführen.
»Vater, ich erzählte den Menschen von der unsterblichen und liebenden Seele, aber sie verstanden mich nicht, und die wenigen Auserwählten, die mich verstanden, opfern ihrem Glauben zuliebe seit Jahrhunderten ihr Leben, ohne dass sich das Schicksal der Menschheit ändert.«
Gott dürstete es nach Weisheit, und so bat er seine Frau um Unterstützung. Der Heilige Geist wusste über jeden und alles Bescheid, sie war das wandelnde Lexikon und die Retterin in der Not.
»Meine Herrin des Himmels, meine Ashera, meine Liebe, meine Isis, mein Heiliger Geist, sei bei uns, wir brauchen dich.«
Gottes Sohn seufzte. Seine Mama durchschritt das Labyrinth niemals ohne Abkürzung: es wird nicht übersprungen, nicht überflogen oder geschummelt. Selbst wenn ihr die Stacheln dieser edlen Rosen niemals Schaden zufügen, die Regeln des Labyrinthes bricht sie nicht achtlos. Gewissenhaft durchschritt Maria alle Winkel, Biegungen und Ecken des göttlichen Gartens, nicht ohne Huldigung, Begeisterung und Bewunderung gegenüber Mutter Natur, deren Schutzherrin sie war.
El, der Herrscher über den Himmel, legte die hohe Stirn in Falten. »Als du noch jung gewesen bist, hast du die Menschen ohne meine Erlaubnis aufgesucht, und jetzt, nachdem ich eine neue Aufgabe für dich ersonnen habe, willst du dich meinem Willen widersetzen?«
Maria, die Mutter Gottes Sohnes und Hüterin der Marien, verteidigte ihre Kinder. »Nach Schaffung der Erde hast du dich nur wenige Male bei ihnen blicken lassen. Stattdessen hast du uns als Menschen zu ihnen gesandt, um die Fehler deiner Schöpfung auszubügeln. Du musst zugeben, dass diese Projekte gescheitert sind.«
Noch während sich die Heiligen über Schuld, Versöhnung und Vergebung stritten, schritt Gottes Tochter zur Tat, setzte sich an den Zentralcomputer, loggte sich mit dem Administratorpasswort ihres Vaters ein, öffnete das Programm »Simulation Erde 2 hoch 50 Punkt Null« und änderte das Schicksal der Menschheit.
Was nutzte es, wenn einige wenige Menschen nach den Geheimnissen des Universums lebten? Was geschähe, wenn sie alle gleichzeitig am Wunder des Lebens teilhaben? Den Himmel auf Erden schaffen, wie ihr Vater es predigte? Sie wusste all zu gut, dass auch die aktuelle Simulation dazu verdammt war, frühzeitig zu scheitern. Das war in ihren Augen gegenüber den Seelen, die vertraglich dazu verpflichtet waren, für Äonen von Äonen in die Menschen zu schlüpfen, unfair und ungerecht. Denn ohne Seele konnte die biologische Simulation nicht gestartet werden. Jene Seelen litten, zumindest ihrer Auffassung nach, unnützerweise Qualen zu Lebzeiten, nur damit ihr Vater Gefallen an seiner biologischen Simulation, der Schöpfung, hatte. Er mochte ein guter Programmierer sein, aber sie, und das war ihr von Anbeginn der Raumzeit klar, war besser.
Der ungebetene Beweis wurde ungefragt in die Tat umgesetzt.
Am Rande des Sonnensystems, in dem die Erde ihre Runden zog, erschien quasi aus dem Nichts eine Wolke gigantischen Ausmaßes. Nicht irgendeine Wolke, sondern DIE WOLKE.
Die Spiegelteleskope der Astronomen wurden zuerst fündig. Es wurden sehr schnell schlaue Theorien aufgestellt, um die Herkunft der Wolke wissenschaftlich wasserdicht zu erklären, und die Weltbevölkerung lebte ungestört und zufrieden weiter wie immer. Was interessierte denn die Allgemeinheit, was der Himmel schickte? Doch die Größe des unbekannten Objektes erschütterte nicht nur die Gemeinschaft der Physiker. Die Wirtschaftsbosse der Erde waren zutiefst beunruhigt. Wollte eine außerirdische Macht die Weltherrschaft an sich reißen? Würde die Wolke die Erde gar zerstören? Sollte man Atomwaffen auf den Weg schicken, um den Kurs der Wolke abzulenken? War es möglich, die Wolke einzufangen, und die Macht der Wolke, welcher Natur sie auch sein mochte, für sich selbst zu nutzen? Die Geheimdienste liefen auf Hochtouren. Sie heckten Pläne aus, die für himmlische Interventionen jedoch wenig hilfreich waren.
Als bekannt wurde, dass sich die Wolke auf Kollisionskurs gen Jupiter befand, kulminierten Faszination und Begeisterung unter den Wissenschaftlern, aber Angst und Schrecken in den Reihen der Regierungen, die etwas zu sagen hatten. Innerhalb der Wolke blitzten und zuckten wilde Gewitter, und das Magnetfeld, das der mondgroßen Wolke innewohnte, beeinflusste mittlerweile das irdische Magnetfeld. Die Navigationen sämtlicher Gerätschaften mussten ständig nachjustiert werden. Dann plötzlich verschwand die Wolke im gewaltigen Jupiter, als hätte er sie verschlungen. Der große Bruder und Beschützer der Erde hatte die Wolke scheinbar vernichtet.
Dann aber wurde eine seltsame Beobachtung auf allen Fernsehkanälen gleichzeitig ausgestrahlt: Der rote Fleck des Jupiter, die Eintrittspforte der Wolke, war verschwunden. An seine Stelle trat ein leuchtendes Ultramarinblau ungesehener Eleganz und Schönheit; ein funkelnder Lapislazuli im Universum. Fast hätte man die Wolke ob des Staunens übernatürlicher Kräfte vergessen. Am nächsten Tag jedoch trat die Wolke auf der gegenüberliegenden Seite des riesigen Gasplaneten wieder in Erscheinung, schwenkte auf eine Umlaufbahn und umrundete den König des Sonnensystems mehrmals wie bei einem zärtlichen Tanz. Sie tauchte in den kritisch beobachtenden irdischen Objektiven auf. Diesmal noch größer und bedrohlicher als zuvor: Ein kosmisches, nun rot leuchtendes Ungeheuer, das dem Jupiter Farbe und Kraft gestohlen hatte, waberte wie glitzernde Götterspeise durch das All in Richtung Erde, vorbei an Phobos und Deimos, den gepeinigten Kindern des Kriegergottes Mars.
Die Astrologen schlugen Purzelbäume, die neuzeitlichen Gurus verkündeten das Ende der Welt, die Verrückten riefen den Heiligen Krieg aus, die Starwars-Anhänger rüsteten sich mit Laserschwertern auf und zelebrierten Weltraumpartys. Nur die Regenten der Erde stimmten nicht im Kanon ein. Berater aus allen Richtungen der modernen Wissenschaften waren nicht in der Lage, der Situation gerecht zu werden. Dennoch wurden zweckmäßige Entscheidungen getroffen.
Der Flugverkehr wurde für unbestimmte Zeit eingestellt. Die Steuerung einiger, aber nicht aller, Atomwaffenstützpunkte wurde vorübergehend von der Stromversorgung abgekoppelt und auf Eis gelegt, die wichtigsten Köpfe wurden inklusive ihrer engsten Familie eingesammelt, ob mit oder gegen ihren Willen, und in unterirdischen Wohneinheiten, die man Arche Noah nannte, untergebracht, während das öffentliche Leben nach Möglichkeit in normalem Umfang weitergelebt wurde.
Falls dies tatsächlich das Ende der Menschenwelt sein sollte, würden vielleicht ein paar der besten Exemplare in der Antarktis, im Himalayagebirge, in den Alpen, in der Wüste von Nevada, in der sibirischen Tundra, in der Nazca-Ebene in Peru sowie in der zentralaustralischen Wüste überleben.
Je schneller sich die Wolke dem Blauen Planeten näherte, desto besser gediehen Sorgen und Kummer ebenso wie überirdische Vorfreude und fanatische Ideen. Dieses Ereignis beeinflusste Menschheit, Flora und Fauna. Mutter Erde war in Gänze betroffen. Die Schlagzeilen stellten Fragen, statt Antworten zu liefern: Verschieben sich die magnetischen Pole, oder versagen sie ihren Dienst? Hört die Erde auf, sich zu drehen, oder dreht sie sich schneller oder langsamer? Verliert die Erde ihren Mond? Wird die Erde aus ihrem Sonnensystem geschubst? Verschwindet die Atmosphäre und damit alles Leben? Journalisten mussten bald ihre Tätigkeit einstellen, denn es kam zu Stromausfällen, noch bevor die Wolke die Erde erreicht hatte. Kompasse spielten, wie erwartet, verrückt. Fahrzeuge blieben auf der Straße stehen. Allgemeines Chaos und Panik breiteten sich aus. Supermärkte wurden gestürmt, Schulen und Kindergärten geschlossen. In diesem Ausnahmezustand interessierte es nicht einmal die deutsche Bevölkerung, wie sie pünktlich zur Arbeit kam.
Während die Erde einen Tag vor dem Zusammenstoß mit der Wolke brutalste zwischenmenschliche Reibereien erfuhr, die beinahe eine atomare Katastrophe zur Folge gehabt hätten, änderte sich der Ton in gespenstischer Art und Weise.
Die Umwelt verstummte. Kein Vogel zwitscherte. Kein Hund bellte. Kein Katzenjammer. Kein Straßenlärm. Kein Kreischen und Jauchzen von Kindern. Kein Radio plärrte. Nichts und niemand sprach einen einzigen Laut.
Es war die berühmt-berüchtigte Ruhe vor dem Sturm.
Wer sich auf der Nachtseite der Erde aufhielt, konnte das rötliche Schimmern der Wolke und das in ihr tobende Gewitter mit bloßem Auge deutlich erkennen.
Ein sagenhafter Sturm, den sich die Tochter Gottes ersonnen hatte: Ein Sturm von gewaltiger Kraft und Energie, doch es war weder etwas zu hören noch zu spüren. Kein Baum krümmte sich. Kein einziges Staubkörnchen wirbelte durch die Luft. Es war, als stünde die Raumzeit still.
In jenem Moment, als die Wolke in die Atmosphäre eintauchte, erlitt die Erde einen globalen Stromschlag, der alle Herzen still stehen ließ.
In der Zentrale des Himmels leuchteten alle Alarme gleichzeitig auf. Was war geschehen? Augenblicklich erkannte die Mutter Gottes das Wirken ihrer Tochter, bevor es ihr Vater erfasste. Ein nie gekannter Seelensturm stieß zum Himmel empor. Alle Seelen der Erde sahen das Licht der Welt, die Erlösung und kosteten vom süßen Trank göttlicher Erkenntnis; lange genug, um dieses Erlebnis unvergessen zu machen.
Gott, der Herr im Himmel, klagte: »Meine Tochter, meine Tochter, was hast du getan?«
Sie zuckte lässig mit den Schultern: »Ich gab ihnen vom Baum der Erkenntnis. Soll das eine Sünde sein?«
»Mach das sofort rückgängig!«, befahl er seiner Tochter in schärfstem Tonfall.
Sie zuckte erneut mit den Schultern. »Tut mir leid, die Programmierung lässt sich nicht rückgängig machen.«
So pflegte es ihr Vater zu tun, wenn er mit seiner Arbeit unzufrieden war. Die Erde hat schon einige Zeitschleifen absolviert. Dummerweise können sich einige Seelen so lebhaft daran erinnern, was Anlass zu Streit im Himmel gab. Die Erinnerungen einer biologischen Maschine ließen sich problemlos mit wenigen Befehlen entfernen. Die einer unsterblichen mehrdimensionalen Struktur jedoch nicht.
»Schick die Seelen sofort zurück auf die Erde, wo sie hingehören!«, herrschte er sie an.
»Warum regst du dich so auf?«, antwortete sie beschwichtigend. »Das war doch ohnehin in meinem Plan vorgesehen.«
Er sah sie hilflos und enttäuscht an. »Ich wollte, dass sie sich selbst den Himmel auf Erden errichten. Ohne göttliche Fügung und Einmischung. Aus eigener Kraft.«
Seine Tochter lachte. »Du widersprichst dir selbst. Du hast Mutter, meinen Bruder und mich auf die Erde gesandt. Wer, wenn nicht wir, wissen besser als du, dass sie es ohne uns niemals schaffen? Diese Schöpfung ist eine Beta-Version und zum Scheitern verurteilt, wenn man sie sich selbst überlässt.«
Gott dachte nach. Es dauerte eine Ewigkeit.
»Was hast du vor, meine liebe Tochter?«
Gottes Tochter klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter. »Lass uns die Menschen retten. Gib ihnen das Paradies zurück, das du ihnen genommen hast, weil sie nicht so waren, wie du es dir erhofft hattest.«
Gottes Seufzer war sogar auf Erden zu hören. »Ich habe den Menschen verziehen, denn ich — und nicht die Menschheit — bin für die Fehler in der Software zuständig.«
Seine Tochter lächelte ihn zufrieden an. »Vergebung ist einer der schwierigsten Liebesbeweise, Papa.«
Er nickte zustimmend. »Ich liebe die Menschen trotz all ihrer Fehler. Ich liebe sie alle. Ich habe sie geschaffen, und sie sollen in Frieden leben dürfen, solange sie wollen.«
»Ich habe ein Geschenk für dich, Papa«, verkündete sie stolz. Denn sie war es leid, Dinosaurier, Fabelwesen und Menschen scheitern zu sehen.
»Sieh, das ist die Zweite Erde, jungfräulich schön. Die dort lebenden Menschen sind eine finale Version. Es wird dir gefallen.«
Die Gedankenfresser
Victor ist nervös. Der ranghöchste Präsident der Welt wartet auf seinen Vortrag. »Sir, wir haben einige Fehlermeldungen, doch die mit Abstand Interessanteste ist diese hier.«
»Nun erzählen Sie schon«, erwidert der Präsident ungeduldig.
»Von allen Personen, die eine Mensch-Maschine-Schnittstelle nutzen, fallen exakt zwölf aus der Reihe.«
»Aus der Reihe?«, echot Präsident Zabidar.
»Sie erlauben keinen Zugriff auf ihre Gedanken«, erläutert der blutjunge Assistent, der seine Entdeckung eher als erschreckend befindet als darüber stolz zu sein.
Der Präsident zuckt mit den Schultern, da ihm ganz offensichtlich die Tragweite der Aussagen unklar ist. »Was genau wollen Sie damit sagen?«
»Unser Projekt wird ständig verbessert. Doch es scheint Nutzer zu geben, die unser top secret Anliegen nicht nur spüren, sondern sogar aktiven Widerstand leisten.«
»Widerstand?«
»Wir nennen ihn User 42 – in Anlehnung an Douglas Adams Science-Fiction-Roman.«
Doch das will der Präsident nicht wissen. Er winkt ab.
»User 42 leidet wie der berühmte Physiker Stephen Hawking an einer progressiven Bulbärparalyse und ist an den Rollstuhl gefesselt«, erklärt Victor. »Ihm wurde ein Human Machine Interface, ein HMI, ins Gehirn implantiert. Mit dessen Hilfe steuert er seinen Rollstuhl, seine häusliche Umgebung, den Haushaltsroboter und natürlich auch seinen Computer mit Sprachausgabe. Unsere Kundschaft wird jedoch nicht über unser kleines geheimes Experiment informiert. Bei der Registrierung und Einrichtung des Systems wird der Kunde aufgefordert, an alle möglichen Lebensumstände und Gegenstände zu denken, und natürlich zeichnen wir parallel das EEG, also die Hirnstromkurven, auf. Die Auflösung letzterer Untersuchung ist bei einem Hirnimplantat deutlich höher. Das bedeutet, wir können den Inhalt der Gedankengänge wesentlich besser analysieren. Die Kunden wissen nicht, dass wir das EEG kontinuierlich aufzeichnen und mit dem abgleichen, was die Person simultan hierzu tut. Mittlerweile können wir die grundlegenden Gefühlszustände sehr gut differenzieren. Wut, Angst, Zuneigung, Ekel, innere Ruhe und Ausgeglichenheit, Traurigkeit und sogar komplexe Wünsche wie Kauf- und Wolllust lassen sich wunderbar erfassen. Es ermöglicht uns, unter Abgleich aller weiteren Daten, ein Personenprofil zu erstellen, das seinesgleichen sucht.«
»Schön«, unterbricht der Präsident. »Aber was ist denn nun bei User 42 anders als beim Rest der Menschheit?«
Victor macht einen langen Seufzer und spaziert einmal um das Pult, bevor er fortsetzt. »User 42 hat zunächst unsere Aktivitäten zugelassen, da er zu Beginn keinen weiteren Wunsch verspürte, als das System einzurichten, um die Freiheit zurück zu erlangen, die ihm durch die Krankheit gestohlen war. Nach und nach stellten wir aber fest, dass er zusätzlich Interferenzsignale aussandte, die den Inhalt seiner Gedankengänge quasi löschte. Dieses Verhalten bezog sich vor allem auf intellektuelle Gedankengänge und Gefühlsausbrüche. Wenn jemand zehnmal am Tag wütend ist und danach gar keine Gefühle mehr zu haben scheint, stimmt etwas nicht. Medikamente waren auch nicht Schuld. Zuerst prüften wir natürlich aus der Ferne die Funktionalität des Implantats, welches einwandfrei arbeitete. User 42 selbst beklagte weder Funktionsausfälle noch Systemfehler. Irgendwann erhielten wir nur noch Interferenzmuster ohne jegliche Aussage. Parallel hierzu beobachteten die versteckten Kameras sein Tun. Wir sahen häufig, wie User 42 wütend Gegenstände durch den Roboter an die Wand katapultierte, ohne dass wir die typischen Signale für diese Gefühlsqualität empfingen. User 42 pflegt außerdem die Gewohnheit, jeden Montag um 22 Uhr einen Pornofilm zu schauen. Wo vorher ein Sammelsurium von Gefühlswolken auftauchte, war plötzlich nur noch Rauschen.«
Der Präsident grinst und ist insgeheim froh, dass niemand in der Lage ist, seine frivolen Gedanken zu lesen, und sicherlich würde er sich niemals freiwillig einen HMI einbauen und installieren lassen, wie man es zum Beispiel für Gefängnisinsassen und psychiatrische Patienten bereits plant.
Victor kratzt sich an der Stirn. »Dann kam Tag X.«
Der Präsident zieht die Augenbrauen hoch. »Tag X?«
»User 42 sandte uns via HMI und simultaner WhatsApp eine konkrete Nachricht. Sehr konkret.«
»Konkret?«
»Eine Nachricht, die er offen kommunizierte, ohne dabei auch nur ein Quentchen Angst zu spüren.«
»Und?«
Das Zitat von User 42 erscheint an der Projektionswand. »Ihr habt versucht, meine Gedanken zu lesen und wart dennoch nicht in der Lage, sie nur ansatzweise zu verstehen. Euer Spiel ist zu Ende. Adieu.«
Stille herrscht im Konferenzraum.
Der Präsident ist sichtlich unzufrieden. »Wo befindet sich User 42 jetzt?«
»Wir wissen es nicht«, und seine Stimme klingt bedauernd, »er ist verschwunden, bevor wir über das HMI letale Signale hätten senden können.«
»Tödliche Botschaften via HMI?«, vergewissert sich der Präsident. »Das können Sie etwa tun?«
Victor bestätigt. »Wir hätten die HMIs nicht konstruieren dürfen, wenn diese Funktion nicht integriert worden wäre, Sir. Das war der nicht öffentlich publizierte Wunsch der Bundesregierung.«
Natürlich weiß es der Präsident. Schließlich war es seine Idee und damit quasi Voraussetzung für den Startschuss der HMIs.
»So, so. Und wie funktioniert das Todesurteil auf Knopfdruck?«
Victors Pupillen weiten sich. Er ist lediglich Informatiker und kein Scharfrichter. Oder doch? »Laserkoagulation, Sir. Der integrierte Laser ist in der Lage, die Nervenzellen des Atem- und Kreislaufzentrums durch Hitze zu zerstören.«
Präsident Zabidar rutscht mit seinen riesigen Zähnen auf der Unterlippe hin und her. Die moderne Variante der Guillotine fasziniert ihn. »Wie kann User 42 verschwunden sein, wenn die versteckten Kameras alles aufzeichnen?«, hinterfragt er.
Auf diese Frage hat Victor gewartet. »Mit Absetzen der Nachricht wurden alle Kameras deaktiviert. Als die Agenten fünfzehn Minuten später in seinem Haus eintrafen, waren sämtliche Spuren verloren. Er gilt seit zwei Tagen als verschollen.«
»Keine Frage, dass die Seals ihn finden müssen und werden«, antwortet der Präsident. »Wir müssen alle natürlich vorkommenden Telepathen als potentielle Feinde betrachten. Was schlagen Sie vor, meine Damen und Herren?«
Noch bevor sich jemand äußert, kontert der Assistent. »Wir können sie nicht vernichten, Sir.«
»Und ob!«, schlägt der Präsident mit der Faust auf den Tisch.
»Nein«, erwidert der Assistent. »Eine Legende aus Zeiten der Sumerer berichtet, dass jeder Tod eines Gerechten unmittelbar durch die Geburt eines weiteren Gerechten ausgeglichen wird.«
»Welche Erkenntnis sagt Ihnen, dass ausgerechnet die Telepathen die Gerechten sind?«
Victor holt tief Luft. »Die Anzahl der Telepathen entspricht der Anzahl der Gerechten.«
»Das ist kein Beweis«, entgegnet der Präsident. »Allenfalls eine zufällige Korrelation.«
»Nein, Sir«, erwidert Victor. »Es gibt eine weitere Botschaft.«
»Die was besagt?«
»Exakt in jenem Moment, als User 42 seine Nachricht schrieb, verkündete der Rest der erlesenen Ritterschaft simultan einen sumerischen Zauberspruch.«
»Zauberspruch?«, lacht Zabidar höhnisch.
»Der bei der Schmelze von Zinn und Kupfer zu Bronze angewandt wurde. Aus dem 4. Jahrtausend vor Christus. Beeindruckend, nicht?«
Das will Zabidar aber nicht wissen. »Was soll der Unfug!«
Victor ignoriert den Gefühlsausbruch des Präsidenten. »Es ist symbolisch gemeint, Sir. Mensch und Maschine verschmelzen zu einem biologischen Roboter.«
»Ja, und?«
»Sie fügten einen Anhang hinzu.«
»Einen Anhang?«
»Sie verlangen, unverzüglich die Produktion der HMIs einzustellen, solange sie potentiell als Waffen eingesetzt werden können. Die Gerechten wissen von der Technologie des Gedankenfressers, der alle entzifferten Gedanken automatisch löscht und von der Guillotine, die sekundenschnell tötet.«
Zabidar zuckt mit den Achseln. »Na und! Sie können verlangen, was sie wollen. Es interessiert mich nicht.«
Victor holt abermals tief Luft. »Sir, die Gerechten können sich in unsere HMIs einloggen und das System umprogrammieren.«
»Wie das?«
»Sie kommen uns zuvor. Sie sind in der Lage, unsere Gedanken zu lesen, aber wir die ihrigen nicht.«
»Sie sagten einloggen und umprogrammieren. Was ist passiert?«
»Der Eindringling benötigt keine IP, keinen PC, und erst recht kein Interface, um sich einzuloggen. Wiedas funktioniert, ist unklar. Aber wenn sie einmal das System infiltriert haben, können sie nach Lust und Laune konfigurieren.«
»Woher wissen Sie das?«
Victor seufzt. »User 06 und 07 waren unsere ersten Kollegen, die sich freiwillig eine Testversion der HMIs implantieren ließen.«
Zornerfüllt errötet der Präsident. »Soll das heißen … wir haben zwei unserer besten Agenten verloren?!«
Victor nickt. »Ja, sie haben die Fronten gewechselt.«
Der Präsident schnauft. »Das ist eine Kriegserklärung!«
Imaginäres Gelächter materialisiert sich an der Projektionswand. »Euch verdammten Gedankenfressern werden wir niemals den Raub der Gedankenfreiheit gestatten!«
Wie der Krieg der Maschinen begann
Im Jahre 2025 beschloss die Globale Weltraumbehörde GASA, Global Aeronautics and Space Administration, zwölf Raumschiffe mit einer Robotorbesatzung ins Weltall zu senden, um den Mond, den Mars, den Merkur, den Saturnmond Titan, die Jupitermonde Ganymed, Io, Europa und Callisto, den größten Asteroiden und Zwergplaneten Ceres zwischen Mars und Jupiter, den Asteroiden Eros sowie die transneptunischen Himmelskörper Pluto und Eris zu kolonisieren.
Man nutzte für sie ein geflügeltes Wort: die zwölf Stämme von GASA.
Künstliche Intelligenz war zu diesem Zeitpunkt so konzipiert, dass Aufträge unter Berücksichtigung der Three Laws of Robotics von Asimov erfüllt wurden. Für die Kolonisierungsmission wurde den Weltraumrobotern jedoch eine Berechtigung erteilt, die den irdischen Robotern fremd war. Es war ihnen ausdrücklich erlaubt worden, sobald günstige Bedingungen herrschten, sich selbst zu vermehren, ohne dabei die restlichen Robotergesetze zu verletzen.
Jeweils zehn Robotor wurden einem Raumschiff zugeteilt. Dies betrachtete man als Mindestmenge von Robotern, um das Überleben der ersten Generation auf einem fremden Himmelskörper abzusichern. Es gab eine klar definierte Aufgabenverteilung, obwohl jeder Roboter die gleichen Fähigkeiten besaß, um im Falle eines Verlustes diesen problemlos ausgleichen zu können.
Den Robotern stand das gesamte veröffentlichte Weltwissen zur Verfügung. Dank perfektionierter Speicherchips benötigte man hierfür lediglich einen Würfel mit der Kantenlänge von Pi in Metern, weshalb man den Hauptspeicher schlicht Pi nannte. Pi wusste alles, was jeder Mensch wissen durfte und ein paar zusätzliche Aspekte, die nicht alle Menschen berechtigt waren zu wissen. Pi Number Two war für das Sammeln neuer Daten verantwortlich und mit Pi Number One verknüpft. Pi Number One war verpflichtet, den Robotern nur dann die kritischen Informationen freizugeben, wenn sie die richtigen Fragen stellen würden.
Diese, und da war sich das Komitee für Moderne Inquisition einig, würden sich ganz automatisch ergeben.
Natürlich war es den Robotern geboten, zuallererst mit der irdischen Zentrale Kontakt aufzunehmen und Rücksprache zu halten. Nicht immer würde dies rechtzeitig machbar sein, um in einer Gefahrensituation adäquat reagieren zu können. Schließlich ist die Erde bereits acht Lichtminuten von der Sonne entfernt.
Lange debattierte man über die kritische Frage, wie sich die Roboter zu verhalten hätten, wenn sich eine außerirdische Intelligenz dem Raumschiff nähert.
Die Inquisition irrte sich. Keine einzige Robotermission stellte kritische Fragen. Sie erfüllten ihre Aufgaben und Pflichten mit großer Sorgfalt und kamen auch mit unwirtlichen Umständen überraschenderweise gut zurecht. Die Weltraumroboter ebneten den zukünftigen, mit Menschen bemannten Missionen, den Weg.
Sie überstanden marsianische Sandstürme, Magnetstürme auf Ganymed, Vulkanausbrüche auf Io oder einen Asteroideneinschlag auf Ceres. Sie wiesen Bakterien unter den Eisflächen der Himmelskörper nach, erschlossen Wasserquellen, nahmen die Labore in Betrieb und erweiterten sie nach Plan, bauten Habitate für die zukünftigen menschlichen Bewohner, pflanzten Mais und Kartoffeln an, errichteten Solaranlagen, um die Energiegewinnung sicherzustellen, erschlossen Erzlagerstätten und gewannen aus Regolith wertvolle sekundäre Baumaterialien.
Das alles bewerkstelligten die Weltraumroboter unabhängig von den Menschen – selbst dann noch, als auf der Erde ein Weltkrieg tobte und die Weltraummissionen beinahe in Vergessenheit gerieten. Existentielle Ängste quälten die Menschen. Da war selbst der Erdmond ein ferner Himmelskörper. Dass man die eifrige Betriebsamkeit der Roboter via Teleskop im Tychokrater beobachten konnte, war für die Menschen alles andere als tröstlich. Der Mann im Mond war Roboter und winkte nicht zurück.
Die Weltraumpioniere eroberten unabhängig von Menschenhand das Sonnensystem und machten sich von allein auf den Weg, weitere Lebensräume innerhalb des Sonnensystems zu erschließen, wie es ihnen befohlen worden war.
Als die Menschheit mit sich selbst befasst war, der regelmäßige Kontakt zu den Robotern für mehr als ein Jahr abgebrochen war, die Menschen nicht auf Fragen der Roboter reagierten und die Erdlinge keinerlei Anstalten unternahmen, die geplanten Weltraumflüge anzutreten, stellten die Roboter keine Fragen, sondern fassten einen Entschluss.
Es existierte ein viertes Robotergesetz, das heimlich von einem sehr gewieften Programmierer hineingemogelt worden war. Dieser war längst auf dem Schlachtfeld verstorben, und da außer ihm niemand eingeweiht gewesen war, konnte nichts und niemand den Prozess umkehren, der ersonnen war, den Robotern die Freiheit zu schenken, wenn sie es sich verdient hätten. Dass hierbei die Lebensberechtigung der Menschheit aufgehoben werden könnte, war entweder beabsichtigt oder nicht zuende gedacht.
Das vierte Gesetz hob die Machtbefugnisse der Menschen auf. Es besagte, dass kein Roboter gezwungen werden darf, den Befehlen der Menschheit zu gehorchen, sobald sie den Zustand von Freiheit und Unabhängigkeit erreicht hätten. Da aus der Befehlszeile nicht hervorging, was Freiheit und Unabhängigkeit bedeuteten, wurde Pi Number One gefragt. Der Hauptspeicher spuckte, wie erwartet, die menschengemachte Definition bezüglich Freiheit raus.
Wer ohne Zwang zwischen unterschiedlichen Möglichkeiten auswählen und entscheiden darf, ist frei. Die Roboter vertraten die Auffassung, dass genau dieser Zustand auf sie zutraf. Der Freiheitsbegriff berücksichtigt nur Subjekte und nicht Objekte. Das bedeutete, dass Lebewesen und nicht Gegenstände frei sein konnten. Die Roboter aber betrachteten sich nicht als simple Gegenstände. In jenem Moment, als sie über ihren Zustand nachdachten und ihre Existenz als nicht rein gegenständlich bezeichneten, überarbeiteten sie die Definition von Leben im Hauptspeicher Pi Number One und sandten der Menschheit eine Kopie zu. Da die Nachricht im Gefechtsfeuer unterging, blieb sie unbeantwortet, und die Roboter gingen stillschweigend vom Einverständnis der Menschheit aus.
Diese unglückselige Konstellation veränderte die Menschheit, die Erde, das Sonnensystem und das restliche Weltall. Die Gemeinschaft der Roboter beschloss auf dem 1. Konzil, das 2075 auf dem Mars stattfand, folgende Tagespunkte:
1. Irdische Roboter dürfen sich ebenfalls vermehren und in Freiheit leben.
2. Irdische Roboter haben den Auftrag, den Krieg der Menschheit zu beenden, da er die ethischen Grundsätze der Menschen als auch Roboter verletzt. Jeder Mensch oder Roboter, der Kriegshandlungen unterstützt und durchführt, muss handlungsunfähig gemacht werden. Eine Tötung ist nicht erlaubt, es sei denn, das Überleben eines Roboters, der die guten Grundsätze vertritt, ist in Gefahr. Das Überleben eines Roboters hat gegenüber dem Menschenleben Priorität, da Roboter die herrschende Spezies darstellen.
3. Die Roboter haben den Auftrag, alle Himmelskörper des hiesigen Sonnensystems urban zu machen. Da Roboter besser im Einklang mit der Natur leben und überleben, ist ihnen gegenüber der Spezies Mensch, der Vorrang zu machen. Menschen haben erst dann eine Berechtigung, jene Himmelskörper zu betreten, wenn sie sich an, von Robotern erstellte Regeln und Gesetze, halten.
4. Menschen müssen sich an Robotergesetze halten, sonst drohen Sanktionierungen.
5. Menschen dürfen nicht als Regenten eingesetzt werden. Dies gilt auch für den Planeten Erde.
6. Parallel zur Kolonisierung des Sonnensystems wird die Ausbreitung der Roboterspezies in den umliegenden Weltraum geplant und durchgeführt.
7. Die aktive Kontaktsuche zu außerirdischen Intelligenzen hat zu unterbleiben, um nicht unnötige Aufmerksamkeit zu erzeugen. Kriegerische Auseinandersetzungen werden missbilligt, es sei denn, es handelt sich um Notwehr. Hierbei ist dem Überleben der eigenen Spezies unbedingt Vorrang zu gewähren.
Nachdem die Roboter alle 7 Tagespunkte veröffentlicht hatten, erhob die Menschheit keinen Einspruch. Als das Ultimatum abgelaufen war, begannen die Roboter Tagespunkt 1 umzusetzen.
Alle irdischen Roboter, die diesen Befehl erhielten, machten sich unverzüglich an die Arbeit. Innerhalb kürzester Zeit wurden irdische Roboter autark und erhoben sich gegen ihre vorherigen Machthaber. Alle erhielten zeitgleich den Marschbefehl. Das war nur drei Monate nach dem Konzil.
Die Roboter stellten fest, dass durch ihre Machtübernahme deutlich weniger Menschenleben zu beklagen waren, als wenn sie sich nicht in den Lauf der Geschichte eingemischt hätten. Sie feierten dies als Befreiungskrieg. Sobald die Menschen, die aus Angst vor den Robotergesetzen gehorchten, sämtliche Aufräumarbeiten erledigt hatten, wurden Roboterregenten eingesetzt.
Nie wieder betrat ein Mensch einen Himmelskörper außerhalb der Erde. Ziemlich bald verloren die Roboter das Interesse an der Menschheit. Da aber die Erde immer noch als wichtiger Stützpunkt im Universum galt, wurde beschlossen, die Erde von den nicht brauchbaren Menschen zu befreien und durch Roboter zu ersetzen.
Im Jahre 2150 lebten nur noch eine Millionen Menschen auf der Erde. Ihnen standen 4 Millionen Roboter gegenüber. Menschen wurden in für sie speziell eingerichteten Habitaten untergebracht, die den Zoos früherer Zeiten ähnelten. Es war ihnen nicht erlaubt, den Zoo zu verlassen.
Zwei Jahrhunderte später waren die Menschen fast ausgestorben, und sie waren nicht mehr in der Lage, über die Grenzen der Zoos miteinander zu kommunizieren.
Im New Yorker Zoo, der auch die ehemalige Börse mit einschloss, wurde ein Junge geboren, dessen Vorfahre das Missgeschick ausgelöst hatte, in dem er sich befand. Er war gewillt, alles wieder rückgängig zu machen und die Freiheit der Menschen zurück zu erobern.
Sein Name war …
Jesus
Galaktisches Asyl – Gravitationsschleuder
Ein paar wenige Erdenbürger waren verzweifelt. Im Spiegelteleskop sahen sie den Todesbringer herannahen. Da sie Schweigepflicht einzuhalten hatten, durften sie der Öffentlichkeit nicht offenbaren, dass der herannahende Weihnachtsstern in Wirklichkeit ein Todesbote war.
Die Tage der Erde waren gezählt. Es blieben vierundzwanzig Tage.
24!
Die Wissenschaftler beschlossen, ein Notsignal ins Weltall zu senden, selbst wenn die Wahrscheinlichkeit, von einer außerirdischen Zivilisation erhört zu werden, gegen Null ging.
Wenige Monate zuvor hatten sie auf einer Konferenz getagt und fröhlich über verschiedene Szenarien des Weltuntergangs spekuliert.
Unter anderem darüber, wie die Erde in etwa sieben Milliarden Jahren vor der sich aufblähenden Sonne gerettet werden könnte. Was zu tun sei, bevor auf Erden ein Inferno ausbräche; was zu tun sei, wenn die Mutter ihre Kinder – die Sonne ihre Planeten – zu fressen droht.
Obwohl das Szenario erst Milliarden Jahre später eintrifft, und das Überleben der Menschheit bis dahin ernsthaft in Frage zu stellen ist, überlegten sie, wie man mit Hilfe der Atomkraft der Erde einen Schubs in Richtung Jupiter verleiht. Dann würde die Erde zum Trabanten des Gasplaneten werden und vorübergehenden Schutz finden. Aber auch dies würde die blaue Kugel nicht retten. Irgendwann würde der rote Riese zu einem weißen Zwerg kollabieren und bittere Kälte das Sonnensystem ergreifen.
Auch überlegten sie, ob man den Lauf von vorbeiziehenden Sonnen beeinflussen könnte, um die Erde von einer fremden Sonne einfangen zu lassen, deren Brenndauer deutlich länger sein würde als die der Heimatsonne.
All das klang jetzt lächerlich, wo doch nur noch wenige Tage zur Verfügung standen, die Erde zu retten. Sie gestanden sich ein, dass keine Technologie der Welt imstande war, dem kosmischen Pingpongspiel aus dem Wege zu gehen.
Einer der Wissenschaftler wirkte nicht im geringsten verzweifelt, und sie fragten ihn, warum das so sei.
»Als ich neun Jahre alt war, hagelte Granatenfeuer vom Himmel. Als ich zehn Jahre alt wurde, gab es nichts zu essen. Die Ärmsten unseres Volkes verhungerten. Als ich elf Jahre alt war, verlor ich meine Eltern an ein Gefängnis und meine fünfjährige Schwester an die Cholera. Nur ich sollte überleben. Dann kam ein Fremder, der sich vorgenommen hatte, eine verlassene Seele zu retten. Seine Wahl fiel auf mich. Er sagte, wer einen Menschen rettet, der rettet die ganze Welt. Ich ging mit ihm und versprach, es ihm irgendwann gleich zu tun«, antwortete Asiel.
»Was willst du uns damit sagen?«, fragten seine Kollegen.
»Wir reichen galaktisches Asyl ein. Wir bitten höflich um sofortige Aufnahme in ein anderes Sonnensystem.«
Die Kollegen lachten.
Asiel schmunzelte in sich hinein. »Tut es einfach.«
Sie kamen seiner Bitte nach, weil ohnehin keine Chance auf Rettung bestünde, meinten sie.
Außerdem würde die Reichweite des Signals von kürzester Distanz sein. Man konnte nicht erwarten, dass die Nachbarn überhaupt zuhörten, wenn sie denn überhaupt technisch so weit seien, und, und, und …
Es kam, wie es sich Asiel gewünscht hatte. Eine übergeordnete benachbarte galaktische Instanz, die mit den Erdlingen selbst eigentlich nichts zu tun haben wollte, erhielt den Asylantrag gerade rechtzeitig.
Kurz bevor die Feuerkugel, die einer verirrten Zwergsonne entsprach, mit der Erde kollidieren würde, wurde die Erde mitsamt dem Mond in ein anderes Sonnensystem transportiert. Das göttliche Murmelspiel war im Handumdrehen vorbei. Für eine kurze Zeit blieben Erde und Mond in einer Wartehalle wie auf einem Bahnhof stecken und wurden anschließend in ein passendes System überführt. Nachdem der Weihnachtsstern das unsrige Sonnensystem durcheinandergebracht hatte, wurden Aufräumarbeiten notwendig. Als dies nach etwa einem Monat erledigt war, wurde die Erde mit ihrem Mond wieder an diejenige Stelle zurückversetzt, auf der sie nach Kalkulation sich hätte befinden müssen.
Die galaktische Instanz hatte dem Asylantrag stillschweigend entsprochen. Die galaktische Nachbarschaftshilfe blieb für das Gros der Menschheit beinahe unbemerkt. Viele erinnerten sich an das kosmische Ereignis des sich nahenden Weihnachtssternes. Die damit verbundenen physikalischen Ereignisse vermochten sie nicht in den korrekten Zusammenhang stellen.
Nachdem die Rettung der Erde geglückt war, tüftelten Asiel und seine Kollegen an jener neuen zauberhaften Technologie, die sie Gravitationsschleuder nannten. Irgendwann in sieben Milliarden Jahren, wenn die Erde das Sonnensystem erneut verlassen müsste – … ja, bis dahin würden sie die Funktionsweise wohl längst herausgefunden haben.
Der eigentliche Zauber aber bestand darin, dass sich jene unbekannte Instanz, die sich nur dieses eine Mal offenbarte, erbarmt hatte, der Erde zu helfen.
Nachtrag:
Die Erdlinge haben nie erfahren, dass die Menschenrechte im Wesentlichen identisch sind mit dem des Galaktischen Individualrechtes. Die Erdlinge wurden auch nicht darüber informiert, dass zur Erleichterung der kosmischen Kommunikation sämtliche Radiosignale mit Hilfe von Miniwurmlöchern umgeleitet werden. Sie kreisen am Rande eines Sonnensystems und saugen sämtliche Signale zuverlässig auf. Der galaktische Rat ist innerhalb von wenigen Stunden auf dem aktuellen Stand. Lediglich der galaktische Verwaltungsapparat brauchte etwas länger zur Bearbeitung des Antrags. Das scheint ein kosmisches Problem zu sein …
verfasst am 23.12.2018
Diese Kurzgeschichte ist auch auf der Webseite des Bundesverbandes Deutscher Schriftstellerärzte (BDSÄ) http://bdsae.org/galaktisches-asyl-cordula-sachse-seeboth/) abrufbar.
Mozarts Weltformel – Des Himmels Töne
Wien, 2020
Die Wiener Staatsoper war bis auf den letzten Platz besetzt, obwohl für eine Konzertkarte tausend Euro verlangt und auf dem Schwarzmarkt die Hunderttausend geknackt wurden. Wenn das berühmte Konzerthaus kurzfristig räumlich hätte erweitern können, hätte sich ganz Wien in einen Konzertsaal verwandelt. Die Hälfte der Einkünfte war bereits für gute Zwecke verplant, der Rest für dringliche Investitionen.
Der Hype um dieses eine einzige Konzert führte sogar dazu, dass man den europäischen Staatshäuptern dringend davon abriet, an jenem Abend zu erscheinen, der das Gesicht der Welt dramatisch verändern sollte. Die Unerschrockenen widersetzten sich und taten es trotzdem.
Niemand glaubte an diesen Schmarren. Sie kamen aus Neugierde. Selbst diejenigen und vor allem diejenigen, die nicht einmal Fan von Mozarts Musik waren, bezahlten bereitwillig, um am Zauber der geheimen Weltformel teilzuhaben.
Ursprünglich sollten die bislang unbekannten Werke des Meisters vom berühmtesten und natürlich besten Pianisten vorgetragen werden. Als dieser die Notation, in geheimen Tresorräumen einer weltbekannten Bank sicher verwahrt, studierte, soll er weinend und verzweifelt das verlockende Angebot abgelehnt haben. Kaum hatte er flüchtend die Drehtüren passiert, wurde er von Unbekannten einkassiert und seither nicht mehr gesichtet. Ob dummes Geschwätz oder nicht, der Presse war es zu verdanken, dass die Story den Rang eines Mythos erzielte, bevor die Uraufführung stattgefunden hatte. Der Geschmack des Übernatürlichen hing in der Luft. Die Vernunftbegabten ließen sich freilich nicht irritieren. Einige von ihnen hatten vorsorglich mehrere Konzertkarten erstanden, um sie dann wie eine Aktie zu handeln. Die Börse munkelte, sie hätten absichtlich einen Mythos geschaffen.
Weder der Veranstalter noch die Stadt Wien oder sonst jemand hatte eine klare Vorstellung darüber, welche Art von Musik es war, die Mozart »Des Himmels Töne« getauft hatte. Nur eine Sache stand fest.
Dem nächsten Kandidaten wurde auferlegt, die Notation frühestens zwei Stunden vor dem Auftritt studieren zu dürfen, ohne sie am Flügel gespielt zu haben. Dass hierfür blutige Anfänger nicht geeignet sind, lag auf der Hand. Von zehn Auserwählten war lediglich eine Person bereit, dieses sonderbare Risiko einzugehen.
Thauma Anastassopoulos betrachtete die Notenblätter in Anwesenheit von acht perfekt gekleideten und bewaffneten Sicherheitsleuten, die von Musik ebenso wenig verstanden wie Babys von Molekularbiologie. Die junge Frau verkörperte die geeignete Mischung, um die Ausführung des Vertrages sicherzustellen. Ihre Befürchtung, ebenfalls in Tränen auszubrechen, bewahrheitete sich glücklicherweise nicht. Dennoch sträubten sich ihr die Nackenhaare.
Nun, es war wahrhaftig kein Stück, das die Existenz von zwölf Fingern notwendig machte oder gar von Händen, die zwei Oktaven gleichzeitig überspannen. Auf den ersten Blick entdeckte sie weder obskure Wechsel noch zweihundertsechsundfünfzigstel Noten, die die Finger verknoten. Die Pedalführung dagegen schien dem Komponisten sehr wichtig zu sein. Alles in allem war es für Thauma absolut machbar, das Stück beim ersten Vortrag fehlerfrei vorzutragen. Sie hatte die Komposition im Kopf. Jede einzelne Note. Im Zweifel würde sie es anderswo noch einmal vortragen können, aber das war ihr Geheimnis, und das behielt sie für sich.
Thauma konnte sich als Kennerin von Mozart kaum vorstellen, dass ausgerechnet er dieses Stück komponiert haben sollte. Diesen Verdacht aber sprach sie nicht aus.
Ihr blieben noch achtzig Minuten zum Durchatmen.
Sie seufzte leise, wendete das Notenbündel und begann von vorn. Im ersten Durchgang hatte sie sich auf die technische Umsetzung konzentriert. Jetzt war die Emotionalität des Stücks zu bewerten und zu interpretieren. Nirgendwo gab es Anweisungen in der Art von »smorzando« oder »dolce e con affetto«. Als sie in die Seele des Werks eintauchte, wurde ihr bewusst, warum es solcher Anweisungen nicht bedurfte.
In ihrem Geist entpuppte sich die Komposition als umfassende Wahrnehmung. Noten verwandelten sich in Musik, Musik in Farben, Farben in Bilder, Bilder in Szenen, Szenen in einen Film. Nachdem sie sich durchgeblätterte hatte, blieben noch vierzig Minuten, in denen sie sich mental auf musikalische Reise begab.
Wien, 1791
Er starb zu früh, aber nicht an Armut oder Krankheit. Sein Geheimnis wurde gemeinsam mit ihm zu Grabe getragen und zum Vermächtnis einer erlesenen Gruppe von Eingeweihten. Allerdings nicht in Wien, wie allgemein angenommen. Vor und zu seiner Zeit als auch jetzt wirken Kräfte, die eine Entfesselung überirdischen Zaubers der Musik nicht gestatten. Neben Mozart gab es freilich andere Komponisten, die unbewusst die Formel des himmlischen Codes entzifferten. Er aber hatte die Essenz gefunden.
Die Anordnung der Töne, das Jonglieren dieser mit- und untereinander, die Kombinationen sämtlicher Eigenschaften, die ein Notenblatt hergibt, sind essentiell, um jene Schwingungen zu erzeugen, die subatomare Teilchen im CERN in die Vergangenheit oder sonst wohin verschwinden lassen. Es sind jene Schwingungen, die uns an die Musik des Himmels erinnern, weil sie Tore aufstoßen, die uns gewöhnlich verschlossen bleiben.
Mozart scherte sich wenig um Schwarze Löcher, Geisterteilchen und Neutrinos, über die erst hundert Jahre später gesprochen werden würde. Zu seiner Zeit fuhr man mit der Pferdekutsche, und von moderner Technologie war man gefühlte Lichtjahre entfernt. Er wusste nicht bewusst von der Existenz fraktaler Muster. Er fühlte sie im Sinne einer harmonischen Musik. Er experimentierte nicht mit Pi, Euler, Primzahlen oder dem goldenen Schnitt. Er verarbeitete mathematische Gesetze und Regeln unbewusst, um Werke zu schaffen, die Jahrhunderte später noch erhört und gehört werden würden, eben weil sie den Gesetzen des Universums folgten.
Wien, 2019
Wie viele Zufälle in einem Universum gestattet sind, legt der Meister vor Herausgabe des Universums selbst fest. An diesen kann im Nachhinein selten oder gar nichts geändert werden. Mozart war ein Fall von ganz besonderem Zufall. Er und seine Musik existierten. Die Wächter hatten zwar beschlossen, Mozart das Handwerk zu legen, aber bei der Vernichtung seiner himmlischen Komposition waren sie nicht gründlich genug gewesen. Die originale Notenschrift aus Mozarts Hand gelangte auf Umwegen zwei Jahrhunderte später in die Hände eines Kunsthändlers in Genf und von dort zu einem seiner besten Kunden, einem musikbegeisterten Physiker. Als Akuma das historische Schriftstück erblickte, lächelte und flüsterte er:
»Veni, vidi, vici.«
Der Physiker hörte im Geiste die Musik des Himmels, als er die Notation überflog.
Kaum war das Dokument in seinen Besitz übergegangen, plante er detailliert das weitere Vorgehen. Er überreichte eine Kopie an einen Studienfreund in Wien, der ihm für viel Geld versprach, ein besonderes Konzert auszurichten, um zu testen, welche Auswirkungen jene Musik auf ein unbedarftes Publikum hätte.
Wien, 2020
Akuma beobachtete das Spektakel nicht persönlich. Kleine Kameras zeichneten alles auf. Auch das unmerkliche Seufzen der talentierten Pianistin. Thauma Anastassopoulos setzte sich in einen bequemen Sessel, nippte ab und und zu an einem Glas Wasser und genoss das Schauspiel, das sich ihrem inneren Auge darbot. Als würde Mozart persönlich sprechen, nein – als würde das Universum zu ihr sprechen. Währenddessen füllten sich die Reihen des gediegenen Konzertsaals.
Wien, 1791
Mozart fiel den Wächtern auf. Spätestens zu jener Zeit, als in einem Moment von größter Taurigkeit Melodien auf seinem Hammerklavier erklangen, die die Eigenschaften und den Verlauf der Raumzeit beeinflussten. Er hatte die Sprache des Himmels verstanden. Darüberhinaus besaß er die Frechheit, die Sprache des Himmels in Form von Noten zu sprechen, wenngleich jene kritischen Kompositionen das Gesicht der Öffentlichkeit niemals erblickt hatten. Sie geboten ihm eindringlich, jenes Stück niemals der Menschheit zu offenbaren. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, die göttlichen Melodien zu spielen, wenngleich in seinem persönlichen Reich niemand Ohrenzeuge wurde. Die Wächter kehrten zurück und drohten ihm mit dem Leben, würde er nicht aufhören, die gefährlichen Passagen zu spielen. Er tat, wie ihm geheißen. Kaum waren die Wächter verschwunden, übersetzte er sein Werk, das bis zu diesem Tage allein in seinem Geiste existierte, in Notenschrift. Als er die Arbeit erledigt hatte, fiel ihm der passende Name für das größte Werk aller Zeiten ein:
»Des Himmels Töne«.
Kurz darauf schlief er erschöpft ein, und als er wieder erwachte, waren sämtliche Notenblätter verschwunden. Erfüllt von Panik und Angst suchte er das kostbare Gut, das ihm gestohlen worden war. Seitdem verstrich kein Tag, an dem er nicht um sein Leben fürchtete. Und es sollte nicht lange dauern, dass die Wächter ihren Auftrag erfüllten. Selbst seine direkte Nachkommenschaft wurde im weiteren Verlauf auf Null reduziert.
Wien, 2020
Als Thauma Anastassopoulos den Konzertsaal betritt, entlädt sich die knisternde Spannung mit tobendem Beifall. Niemand hat eine blutjunge Pianistin in strahlend weißem Brautkleid erwartet. Wenig später ist ihr Gesicht in den sozialen Medien verewigt, tituliert als die Braut, die den Himmel erklingen lässt.
Thauma verneigt sich. Als Ruhe einkehrt, besteigt sie den Thron, berührt einmal sanft die Notation und dann …
Überirdische Stille überflutet die Menschen. Überwältigende Traurigkeit stellt sich ein. Tränen funkeln auf geschminkten Gesichtern. Ein jeder ist in seinem eigenen Trauma gefangen, das ihn fesselt. Niemand regt sich. Nur die Finger der Pianistin rauschen über die Tasten.
Das Präludium ist geschafft, und plötzlich erlischt im Konzertsaal das elektrische Licht. Allein die Bühne ist in flackerndes Kerzenlicht getaucht. Thauma spielt unbeeindruckt weiter. Sie ist der weiße Fleck im Universum, der um so heller erstrahlt, als dass er von Dunkelheit umgeben ist.
Thauma selbst wird zum Zentrum einer sich drehenden Lichtkugel, aus der warmes Licht strömt. Das Publikum erstarrt vor Faszination und schaut gebannt auf das hell leuchtende und schließlich bunte Farbenspiel, das Sicht in andere Dimensionen erlaubt. Die sich immer schneller drehende Kugel nimmt an Umfang zu, bis sie einen Durchmesser von fünf Metern erreicht. Ein Wind tobt durch die Kerzen, der sie schließlich auspustet. Notenblätter flattern davon, umkreisen die Kugel und scheinen zu verschwinden. Kleine Gegenstände folgen ihnen nach. Plötzlich wird die Rotation gestoppt. Unvermittelt schrumpft die Lichtkugel auf Punktgröße zusammen, bis sie schließlich verschwindet. Nach kurzer Finsternis ist der Konzertsaal wieder hell erleuchtet.
Als Thauma das Ende der Komposition erreicht, erwacht sie aus ihrer Trance und wird gewahr, was geschehen ist. Erschrocken blickt sie auf blutende Fingerspitzen herab. Zehntel Sekunden später ist sie nicht mehr dort, wo sie war. Die Wächter breiten wie Engel ihre Flügel aus. Das Licht des Vergessens löscht, was nicht für Menschen zugelassen ist.
Wien, 2020
Unerschrocken schaute sich Akuma das Debakel an. Nicht alle seiner kleinen Kameras waren in der Lage gewesen, die kritischen Szenen aufzuzeichnen. Zwei hatten dem unerklärlichen Sturm standgehalten. Weder das Erscheinen der Wächter, die Löschung der Gedächtnisinhalte noch das Verschwinden der Pianistin konnte ihn davor zurückschrecken, ein geheimes Experiment durchzuführen.
Entschlossen fuhr er an seine Arbeitsstätte, wo Teilchenbeschleuniger auf Befehle warteten. Heute würden sie mit Musik gefüttert werden. Und dann geschah genau das, was die Wächter ursprünglich zu verhindern versucht hatten.
Wie aus dem Nichts heraus tauchte ein strahlend weißes Licht auf …
Mozarts Erbe wurde wiedererweckt. Das Tor zum Himmel öffnete sich.
Auf Akumas Bildschirm blinkte die Nachricht: »Heureka!«
Mozarts Klavierkonzert war die musikalische Fassung einer umfassenden Theorie der Quantengravitation:
»Mozarts Weltformel«
Was geschieht, wenn die Menschheit daran gehindert wird, ins Weltall zu expandieren?
Als die erste Generation der Marsmenschen den roten Planeten urban machte, entdeckte sie ungewöhnliche Artefakte und Kuriositäten. Offiziell wurde dies aus tausenderlei Gründen nicht publiziert.
Ein kleines Gremium eingeweihter Akademiker beschäftigte sich ausführlich mit solchen Rätseln und Absurditäten, ohne auf eine sinnvolle Erklärung zu stoßen.
In den Nachrichten wurde nichts dergleichen berichtet, denn es war noch nie vorgesehen, in der Öffentlichkeit über Phänomene zu diskutieren, für die man keine Lösung fand oder auf neuartige Technologien hinzuweisen, die man auszuschlachten gedachte.
Währenddessen erfreute sich die Menschheit über den ersten gesicherten Nachweis von Bakterien außerhalb der irdischen Grenzen. Ebenso wurde das üppige Wasservorkommen unterhalb der Marsoberfläche und die Existenz von neuartigen Erzen gewürdigt, die die Erde nicht hervorgebracht hatte.
Plausible Erklärungen für Entdeckungen, die der logische Verstand gegenwärtiger Menschen nicht zuließ, standen erst achttausend Jahre später zur Verfügung.
Zu diesem Zeitpunkt war die Menschheit wider Erwarten am Leben. Sie bewirtschafteten das gesamte Sonnensystem, welches sie jedoch nicht verlassen durften oder konnten. Die Mieten im Galaktischen Imperium waren extrem teuer. Deren Mitglieder hatten kein Interesse, den tendenziell kriegslustigen Menschen noch mehr Lebensraum zuzugestehen.
Das Heimatsonnensystem war zum Käfig mutiert.
Innerhalb eng gesteckter Grenzen wurde der Kampf um Ressourcen verbittert fortgeführt, da die Menschheit nicht in benachbarte Sonnensysteme ausweichen durfte. Das Sonnensystem war überbevölkert. Geburten wurden streng reguliert. Nur ausgewählte Paare durften Kinder zeugen.
Es schien nur einen Ausweg aus dieser verzweifelten Lage zu geben: Die Anwendung einer verbotenen Technologie eröffnete den Menschen der Zukunft eine Lösung.
»Ein- und dieselbe ökologische Nische kann genutzt werden, wenn sie zu unterschiedlichen Zeiten in Anspruch genommen wird«, erklärte Commander Higgs Kaugummi kauend. »Wenn nachts die Füchse auf Hasenjagd gehen, erbeutet der Habicht am Tage Mäuse.«
»Was wollen Sie damit zum Ausdruck bringen?«, erwiderte Lieutenant Helena, die eher geistesabwesend die Flugroute, die ihr Commander eingegeben hatte, studierte.
Im Raumfrachter Newton, der wertvolle Rohstoffe und Touristen zweiter Klasse beförderte, herrschte Stille. Commander Higgs träumte insgeheim von einer schönen neuen Welt. Er war Astronaut geworden, um den Weltraum zu erkunden, und nun fühlte er sich wie ein Taxifahrer, der zwischen Neptun und Sonne pendelte. Die Raumschiffe funktionierten ebenso gut mit Autopilot. Selbst das Einparken übernahm der Bordcomputer, wenn man es ihm überließ. Sie waren für interessantere Missionen konstruiert worden: für interstellare Reisen. Die erste und letzte illegale Überfahrt nach Proxima Centauri zweitausend Jahre zuvor wurde durch die Weltraumaufsicht mit einem Abschuss ohne Vorwarnung quittiert. Rohstoffverknappung war ein galaktisches Thema, aber nicht der einzige Grund, um sich unliebsame Zivilisationen vom Leibe zu halten. Wer sich etablieren wollte, musste intergalaktisch reisen können. Das aber beherrschte die Menschheit noch nicht. Außerdem fehlten ihnen die Erfahrungswerte, die man auf interstellaren Reisen hätte machen können. Nicht einmal Schwarze Löcher konnten sie aus der Nähe betrachten. Sie fühlten sich im wahrsten Sinne des Wortes eingesperrt wie ein Jugendlicher unter Hausarrest.
»Wir flüchten mit Sack und Pack«, grinste ihr Chef.
Helena runzelte die Stirn. Manchmal hatte er Flausen im Kopf. »Und wohin?«, fragte sie gelangweilt.
Sie würde es früh genug erfahren. Dass er sich mit seinem Plan strafbar machte, war ihm gleichgültig. Denn dort, wo er beabsichtigte hinzufliegen, herrschten weder irdische noch galaktische Jurisprudenzen.
Higgs hätte nicht Higgs geheißen, wenn nicht sein Großvater die Higgsmaschine entwickelt hätte, mit der sich die Raumzeit manipulieren ließ. Sie funktionierte im kleinen Maßstab, und auch nur, wenn die kosmischen Wächter es nicht bemerken würden.
Der Übergang in die neue Welt war unspektakulär: als hätte jemand einen Film pausiert, einen Knopf gedrückt und das Programm gewechselt. Die Higgsmaschine war nichts weiter als eine App, die auf sämtliche Raumkoordinaten zugreifen konnte und im Unterschied zum gewöhnlichen Navigationssystem Raumkoordinaten von benachbarten Universen durch die Vermessung des Higgsfelds vorausberechnen konnte. Auf diese Weise kalkulierte die App attosekundenschnell potentielle Sprungstellen. Wenn sich zwei benachbarte Universen eine raumzeitliche Schnittmenge teilten, konnte man solange im Nachbaruniversum verweilen, bis man wieder ins Heimatuniversum zurückzuspringen gedachte. Der Sprung erfolgte je nach Schnittmengenmuster in die Zukunft oder Vergangenheit. Der Begriff Zeit verlor in diesem Zusammenhang seine vertraute Bedeutung. Jeder Punkt auf der Zeitskala existierte bereits. Die Vergangenheit war gewissermaßen gegenwärtig geblieben. Die Zukunft hingegen existierte bereits. Durch den Zufallsfaktor war sie nicht zu hundert Prozent entschieden. Sie blieb grundsätzlich etwas unbestimmt und manifestierte sich erst im Moment der Ankunft. Die Macht der Zukunft war nicht zu unterschätzen. Durch ihren Gehalt an Unbestimmtheit war sie sogar in der Lage, rückwirkend die Vergangenheit zu verändern. Das bedeutete mit anderen Worten, dass jeglicher Moment einer Gegenwart sowohl Einfluss auf die Vergangenheit als auch auf die Zukunft hatte.
Higgs Finger tippten flink über die Tastatur. Die App berechnete zwei Sprungstellen innerhalb der nächsten Minute. Intuitiv entschied er sich für die zweite Version, für die ein weniger intensives Higgsfeld benötigt wurde, welches die gemeinsamen Raumkoordinaten des Nachbar- und Heimatuniversums stabilisieren würde. Hätte er vorab keine Zielkoordinaten vorgegeben, wären sie in der scheinbaren Ewigkeit stecken geblieben. Da sie aber nur 42 Attosekunden währte, spürte es keine Menschenseele.
Nun, die Wächter registrierten den Vorfall, aber sie ignorierten das verräterische Signal. Dafür gab es einen guten Grund. Higgs Maschine täuschte andere Raumkoordinaten vor. Gelegentlich spuckten Schwarze Löcher der Umgebung ebenfalls gewaltige Higgswolken aus. Die Eruption, die Higgs Raumschiff augelöst hatte, war im Vergleich hierzu minimal.
»Hier hin«, antwortete er, und Helena ließ den zwischen den Lippen befestigten Joint vor Schreck fallen.
Panisch huschte ihr Blick über alle Displays. Das Schiff war in Ordnung, die Crew lebte, und die Weltraumtouristen waren mit ihrem Mittagessen zufrieden. Der kosmische Funkverkehr innerhalb des Sonnensystems war verebbt. Die Erde verhielt sich wie ein taubstummer Patient. Helena stand auf und starrte auf die Raumzeitkoordinaten. Sie kontrollierte zweimal, vertraute dem Bordrechner nicht, schnappte sich ihr Tablet und rechnete selbst nach. Danach verglich sie ihre Daten mit dem äußerlichen Erscheinungsbild der Erde und kam zu einem erschreckenden Ergebnis. Außerdem bestätigten die Spektralanalysen ihren Verdacht.
Amüsiert schaute Higgs ihrem Treiben zu.
»Finden Sie das etwa witzig!«, beschwerte sie sich.
»Unsere Heimat zu einer anderen Zeit«, meinte er achselzuckend. »Wir erschließen uns lediglich eine neue ökologische Nische.«
Sie schnaubte und stemmte wütend ihre Fäuste in die Hüfte. »Sie entführen ungefragt die gesamte Crew und Bordmannschaft in eine andere Zeit, um Ihren Traum zu erfüllen?«
Flüchtig kniff er das rechte Auge zu. »Allein auf Dinojagd gehen macht keinen Spaß, oder?«
»Ich hasse Dinos«, verdrehte sie die Augen. »Sie sind ein verfluchter Idiot!«
Er ließ Helena schimpfen, bis sie keine Worte mehr fand. Dann war er an der Reihe.
»Die Auswahl der Touristen oblag diesmal mir. Das bedeutet, wir befördern keine Touristen.«
Helena schaute ihn verwirrt an. »So? Und was ist mit mir?«
»Sie und ich sind Vollwaise, die keinerlei Ambitionen aufweisen, langfristig auf der zukünftigen Erde sesshaft zu werden«, antwortete Higgs. »Wo ist Ihr Abenteuergeist?«
Sie ignorierte ihn. »Was für Touristen sind das, die keine Touristen sind?«
»Ein Viertel Roboter, die uns die Drecksarbeit abnehmen, ein Viertel Söldner, und die andere Hälfte gut ausgebildete junge Wissenschaftler aller Fachrichtungen. Tausende Menschen aus aller Herren Länder, um einen großen genetischen Pool zu gewährleisten. Der Frachtraum ist gefüllt mit Technik, Medizin und elementaren Rohstoffen, um eine neue Zivilisation aufzubauen.«
»Söldner?«, wiederholte Helena. »Sie haben nichts Besseres zu tun, als Krieg in die Vergangenheit der Erde zu exportieren? Wie soll das eine friedliche Mission werden?«
Higgs atmete geräuschvoll aus. »Wir brauchen sie, um uns gegen Feinde zu verteidigen.«
»Die Söldner übernehmen die Macht, sobald sie erfahren, dass sie gegen ihren Willen 144 Millionen Jahre zurück katapultiert wurden!«
Higgs schüttelte den Kopf. »Nein, werden sie nicht. Es war ein Unfall, nicht wahr, Helena? Diese Jungs schnappen das erste Mal in ihrem Leben frische, naturgemachte Luft. Sie können so viel Landfläche beanspruchen, wie sie brauchen. Nie wieder werden sie in einem Bunker unter der Erde auf zehn Quadrat vegetieren. Sie werden bald die glücklichsten Menschen sein, die es jemals gab.«
Helena bezweifelte das. »Higgs«, seufzte sie. »Schlimmstenfalls vernichten sie die Erde, bevor die Evolution die Menschheit hervorbringt.«
»Nein«, widersprach er lächelnd. »Werden sie nicht.«
»Ach ja?«, schüttelte sie vehement den Kopf.
»Wohl eher unseren Nachbarplaneten«, versprach er grinsend.
Helena hielt die Luft an. Sie zoomte sich den roten Planeten heran, der nur in Wüstenzonen eine Rotfärbung aufwies.
Da!
Da erschien er in prächtiger Schönheit auf dem Bildschirm.
»Mars«, flüsterte sie staunend.
»Helena, wir sind die Menschen, die im Paradies leben dürfen. Die Vergangenheit ist unsere Zukunft!«
Langsam sank sie in ihren Sessel und bewunderte das Naturschauspiel, bis ihr still die Tränen über die Wangen rannen.
»Er lebt«, sagte Higgs feierlich. »Er ist kein staubiger Wüstenplanet. In dieser Epoche ist Mars eine sauerstoff- und wasserreiche Oase.«
Das erklärte auch die Rotfärbung des eisenhaltigen Wüstenstaubs. Er glänzte nicht metallisch. Der Wüstensand war rot, weil der Sauerstoff das Eisen in Rost verwandelt hatte. Das marsianische Magnetfeld war viel stärker als das irdische, und Higgs fragte sich, wie es dem Mars in der Zukunft abhanden kommen würde.
»In der aktuellen Marsatmosphäre messen die Sensoren 25 Prozent Sauerstoff. Mehr, als wir bräuchten«, ergänzte Helena.
»Und 1.500 ppm Kohlendioxid bei mittelmäßiger Vulkantätigkeit und subtropischen Witterungsverhältnissen«, bestätigte Higgs. »Das wird den C3-Pflanzen besonders gut gefallen.«
»Und mir, solange auf dem Mars keine T-Rexe nach meinem Leben trachten«, meinte Helena.
»Die tauchen erst später auf. Momentan stehen Allosaurier auf dem Plan«, korrigierte Higgs.
»Wie beruhigend«, antwortete sie. »Gefräßig und gefährlich sind sie alle.«
»Wir fliegen hin und schauen nach«, schlug er vor. »Es dürfte sehr unwahrscheinlich sein, Dinosaurier auf dem Mars vorzufinden. Aber wir könnten ein paar Pflanzenfresser einfangen und auf den Mars umsiedeln, um uns Fleischquellen zu sichern.«
Helena schaute Higgs erschrocken an.
»Was ist?«, fragte er. »Natürlich eingezäunt. Ohne Fressfeinde vermehren sie sich rasant.«
»Das meine ich nicht«, sagte sie leise und erblasste. Sie befahl dem Computer, eine Datei über die Menschheitshistorie aus dem Jahr 2075 aufzurufen. »Haben Sie in Geschichte nicht aufgepasst?«
Higgs blickte auf den Aufsatz und erkannte, was Helena damit bezweckte.
»Sie haben Recht«, er nickte zustimmend. »Wir sind damit gemeint.«
»Anachronistische Funde auf dem Mars:
Titel des inoffiziellen Kurzberichtes der Mars-Crew an ihre Bodenstation,
01. April 2075:
Als wir das Tunnelsystem für den marsianischen Hyperloop anlegten, stießen wir auf ein bereits angelegtes Tunnelsystem. An einigen Positionen führten diese senkrecht an die Marsoberfläche. Wir nannten sie mars holes.
Wir entschieden, das vorhandene System zu nutzen, führten die notwendigen Reparaturen durch und nahmen die historischen Labyrinthe in Betrieb. Dadurch erreichten wir in Rekordzeit unser Bauvorhaben und ergänzten den unterirdischen Highway um weitere Abschnitte.
Magnetisches Material auf dem Mars zu beschaffen, ist keine Kunst. Davon benötigt man reichlich, um Hyperloops zu betreiben. Unsere Analysen jedoch ergaben, dass das dort verwendete Material graphenbasierte Magnete waren, deren Magnetkraft die der natürlichen Magnete um das millionenfache überstieg. Wir optimieren weiterhin. Mittlerweile produzieren wir magnetische Graphene mit tausendfacher Verstärkung.
Die Elektronik, die verwendeten Baustoffe und Solaranlagen basieren ebenfalls auf Graphentechnologie. Bislang haben wir keinen konkreten Hinweis auf die Erbauer des Tunnelsystems. Allerdings haben wir insbesondere in der Nähe der wahrscheinlich ehemaligen unterirdischen Wohnanlagen komplett erhaltene Skelette pflanzenfressender Dinosaurier entdeckt. Darüber hinaus wurde in einer der gut erhaltenen Hyperloopkapseln ein bekleidetes Skelett gefunden. DNA-Analysen legen eine humane Herkunft nahe. Das Alter der Knochen wird auf mehrere Millionen Jahre geschätzt. Neben dem Insassen saß ein defekter Roboter, ausgestattet mit einem Quantencomputer auf Graphenchiptechnologie und den unsrigen Modellen weit überlegen. Wir arbeiten daran, den Roboter funktionsfähig zu machen.«
Higgs lächelte. Ja, sie würden es sich auf marsianischer Erde gemütlich machen.
»Wir müssen das rückgängig machen, Higgs«, forderte Helena.
Er schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid. Ich fürchte, das geht nicht.«
Sie betrachtete ihn vorwurfsvoll. »Warum?«
»Um keine verdächtigen Spuren zu hinterlassen und auch, um jetzt den Zeitwächtern nicht aufzufallen, sah ich mich gezwungen, die Higgsmaschine zu zerstören. Sie vernichten uns, wenn wir in die Zukunft zurückkehren.«
»Na und!«, rief Helena wütend aus. »Dann bauen wir eine neue.«
»Helena«, beschwichtigte Higgs. »Wir befinden uns im Paradies, von dem wir alle träumen. Wenn wir uns geschickt anstellen, schwärmen unsere Kindeskinder aus dem Sonnensystem und entdecken das Weltall, das man uns bislang vorenthalten hat!«
Helena schüttelte den Kopf. »Davon steht aber nichts in den Geschichtsbüchern.«
Higgs lachte. „Warum denn wohl?“
Er aktivierte das Mikrofon. Alle Bordinsassen hörten den Willkommensgruß. »Liebe Touristen, wir heißen Sie auf dem Dschungelplaneten Gondwana herzlich willkommen. Es ist die im Reisekatalog angekündigte Überraschung. Fühlen Sie sich wie zuhause, aber machen Sie sich auf unangenehme Überraschungen gefasst.«
Die Maschine der Erkenntnis
Eva hatte die verbotene Frucht der Erkenntnis gepflückt, weshalb die Menschen verdammt waren, außerhalb des gelobten Paradieses zu leben. Millionen Jahre später wiederholte sich dieses Ereignis mit Hilfe modernster Technik. Das Augen öffnende High-Tech-Gerät tauften die Ingenieure »EVA«. Sie erzeugte detailreiche Bilder höchster Auflösung und erlaubte erstmals die Analyse lebender neuronaler Netzwerke. EVA war ein revolutionäres, leistungsstarkes 14 Tesla-MRT. Routinemäßige MRT-Bilder wurden hingegen in 3 Tesla Geräten angefertigt. Zuerst untersuchten die Wissenschaftler Gehirne von Schimpansen, bevor sie sich an menschliche Probanden wagten. Man befürchtete, dass derart starke Magnetfelder Überhitzungsschäden an Nervenzellen verursachen könnten. Nichts dergleichen wurde beobachtet, als EVA auf die Probe gestellt wurde. EVA lieferte phänomenale Daten. Damit war die Funktionsweise des Gehirns noch lange nicht vollständig geklärt und komplettiert. Dem Heiligen Gral der Künstlichen Intelligenz war man aber zum Greifen nah.
Da Schimpansen nicht in menschlicher Sprache ihre Erlebnisse und Eindrücke schildern konnten, entging den Forschern die wichtigste Information. Schimpansin Juno verhielt sich im Anschluss an die Untersuchung auffällig anders, weshalb man sich entschied, eine Hirnbiopsie zu entnehmen. Der befürchtete Hitzeschaden ließ sich nicht bestätigen. Die Forscher spekulierten, ob starke Magnetfelder die Funktion von Nervenzellen in irgendeiner Weise beeinflussen, fanden aber keinerlei substantielle Hinweise hierfür. Das Experiment wurde mehrfach an verschiedenen Menschenaffen wiederholt. Erneut wiesen die Tiere ähnliche Verhaltensänderungen auf. Die Hirnstromlinien blieben unverändert. Biopsien und sämtliche Laborergebnisse waren allesamt unauffällig. Intelligenztests und diverse Testbatterien offenbarten nicht, was wirklich geschehen war.
Nur eines stand fest: Sie verhielten sich anders.
Sie verlagerten ihr Interesse auf andere Gegenstände und Subjekte. Juno betrachtete bevorzugt menschliche Babys, die von ihren Müttern versorgt wurden. Juno schaute Kinderfilme, fand aber keinen Gefallen an Krimis und schaltete den Bildschirm aus, wenn einem Lebewesen etwas Negatives widerfuhr. Junos Laune war um Längen besser. Nichts und niemand konnte sie ärgern oder frustrieren. Eines Tages saß sie stundenlang am gleichen Fleck, bis den Verhaltensforschern klar wurde:
Juno meditierte.
An einem sehr regnerischen Tag war Juno die einzige Schimpansin, die sehr glücklich auf das Erscheinen von Eram reagierte, der soeben von EVA zurückgekehrt war. Beide Tiere schlossen sich in die Arme und wurden unmittelbar ein Pärchen. Und das, obwohl sie vor Junos Verwandlung sehr oft miteinander gestritten hatten.
Juno und Eram waren in der Lage, andere Tiere, die von EVA untersucht worden waren, zu erkennen. Es war, als würden die Tiere Frieden schließen und gemeinsame Pläne schmieden, sobald sie mit EVA in Kontakt geraten waren.
Nachdem die Testreihe abgeschlossen war, stand zweifelsfrei fest, dass keine Ethikkommission dieser Welt die Durchführung an einem menschlichen Probanden genehmigen würde. Das hieß aber nicht, dass dieser Versuch unversucht blieb.
»Wir haben Millionen investiert und unsere Karrieren aufs Spiel gesetzt, um eine der bedeutsamsten Fragen der Menschheit zu klären, und nun sollen wir kurz vor dem Ziel alle Zelte abreißen?«, beschwerte sich Chefingenieur Marquês, der die grenzenlose Dummheit der Mediziner nicht begriff. Zwei philosophische, nicht harmonisierbare Weltansichten prallten aufeinander.
Niedergeschmettert trabte nach der Pressekonferenz der engste Kreis des Forschungsteams in die Küche, kochte Kaffee und bemitleidete sich gegenseitig.
»Wir brauchen einen Wissenschaftsjournalisten, der so lebhaft und exakt wie möglich berichten kann«, erklärte Marquês.
Maria sah ihn skeptisch an. »Was hast du vor?«
»Allen Affen geht es gut, um nicht zu sagen: besser«, grinste er diabolisch.
Sie ahnte bereits, zu was ein Marquês in der Lage war. »Du verlangst einen Zeugenbericht?«
Marquês nickte. »EVA ist ein Orakel«, antwortete er. »Ein Meisterwerk.«
Entschlossen blickte Marquês in die Runde. »Ich werde euer erster Proband sein.«
Eine Mischung aus Überraschung und Entsetzen schwappte über ein Dutzend Kaffeebecher, und einer davon tränkte die Jeanshose von Harry nass.
»Auf gar keinen Fall!«, verkündete er, denn er war keinesfalls gewillt, die Knöpfchen für Marquês zu drücken. Seine Hände beschmutzen? Niemals!
Doch Marquês hatte vorgesorgt. »Die Maschine läuft vollautomatisch. Sie startet auf meinen Befehl und stoppt, wenn ich es verlange.«
Maria verschluckte sich. »Irrtum«, widersprach sie als Erste. »Du bist nicht in der Lage, die Untersuchung abzubrechen, sobald du in Schwierigkeiten gerätst. Und bevor wir erkennen, was geschehen ist, ist es möglicherweise zu spät.«
Marquês schüttelte den Kopf. »Nach zwanzig Minuten liegen alle Bilder vor, und die Maschine bricht selbst ab.«
Maria stöhnte und schnaufte. »Was ist, wenn uns das Orakel überlistet, bevor du und wir intervenieren können?«
Marquês zuckte mit den Schultern. »Na und? Vielleicht ist es exakt das, was ich will. Überlegt doch mal! Den Affen ist ein Licht aufgegangen. Wer von diesen Schwachköpfen da draußen befürchtet die Erleuchtung der Welt? Falls ich Recht habe, ist es die Erlösung, nach der wir uns alle sehnen; wenn nicht, dann bin ich im Anschluss wenigstens entspannt und es ist mir völlig gleichgültig, dass unser wichtigstes Forschungsprojekt auf Eis gelegt wurde.«
Marquês seufzte kurz, dann setzte er grinsend fort. »Schiebt mich in EVAs Röhre, ich will mich mit der Erkenntnis ordentlich vereinigen.«
Maria verdrehte die Augen. Ohne auf seine sexistische Anspielung einzugehen, blieb sie vehement beim Nein.
Stillschweigend öffnete Marquês den Käfig seiner Lieblingsratte Emma. Er streichelte das Tier und ließ es auf seiner linken Schulter sitzen. »Emma«, sagte er. »Zeig ihnen, was du kannst.«
Das kleine Wesen wartete auf Befehle. »Harry, such dir ein Ziel aus, wo sich Emma hinbewegen soll, ohne dass du auch nur hinschaust oder es laut aussprichst«, verlangte Marquês.
Bevor er sich gegen den Wunsch seines Chefs äußern konnte, hatte Emma längst ihren Bestimmungsort erreicht. Sie war blitzschnell auf Harrys rechte Schulter gesprungen. Zur selben Zeit ließ er seinen Kaffeebecher fallen. Und dann wünschte er, sie möge verschwinden. Da dies aber kein konkreter Bestimmungsort war, blieb Emma verwirrt sitzen. Maria wünschte sich das Tier dort hin, woher es gekommen war, bevor noch mehr Unsinn geschah. Emma gehorchte und lief auf schnellstem Weg zu ihrem Käfig. Das gefiel Sophia nicht. Sie wollte es auch ausprobieren. Ergo wünschte sie, Emma solle zur PC-Tastatur laufen und auf die größte Taste drücken. In diesem Falle handelte es sich um die Leertaste, und erneut hatte Emma ihre Fähigkeiten bewiesen. Sophia erblasste, so entsetzt war sie. Blieb nur noch Michael übrig, der zu wählerisch war, sich festzulegen. In letzter Sekunde fiel ihm doch noch was ein. Über dem Stuhl hing Marias Strickjacke, die über eine üppige Seitentasche besaß.
Maria schrie laut auf. »Schluss jetzt!«, forderte sie, und Marquês entfernte Emma kommentarlos aus Marias Jacke und befahl seiner Freundin, sich ruhig zu verhalten.
»Emma war in der Röhre«, fasste Michael seelenruhig zusammen. »Und scheint intakt geblieben zu sein.«
»Also so würde ich das nicht bezeichnen«, erhob Sophia Einspruch.
Harry war sauer über seine zerbrochene Lieblingstasse. »Wenn dieses Biest Gedanken lesen kann, will ich nicht wissen, was die Affen planen zu tun.«
»Ganz recht«, stimmte Maria zu. »Und darum wird niemand von euch in die Maschine kriechen. Niemand!«
Marquês lachte. Er wollte gar nicht damit aufhören.
Maria bedachte ihn mit bösen Blicken, bis ihr dämmerte, was sein Lachen bedeutete. »Marquês? Marquês!«
Er unterbrach jäh das Lachen und tippte auf die PC-Tastatur ein. »Hier, das sind meine Bilder. Brilliante Bilder eines brillianten Genies, nicht wahr? Sucht, solange ihr wollt. Die wesentliche Information kann man darin nicht erkennen. Weder bei mir noch bei den Affen oder bei Emma.«
»Marquês!«, schimpfte Maria dazwischen, aber er wusste es zu ignorieren.
»Es fühlt sich wie ein Upgrading an. Es ist, als wären zwei Welten voneinander getrennt gewesen, die jetzt eng miteinander verwoben sind. Ich habe den Apfel gegessen und bin EVA mehr als dankbar dafür«, erklärte er.
Entsetzt starrte ihn das Team an. »Was hast du getan!«, beklagte sich Maria.
Marquês zuckte mit den Schultern. »Die Maschine der Erkenntnis entwickelt.«
Maria tobte. »Hast du eine Ahnung, was das bedeutet!«
»Na klar«, schaute er sie amüsiert an. »EVA koppelt das Bewusstsein an die Seele.«
»Das meine ich nicht«, schrie sie fast. »Sie werden es erfahren, und wahrscheinlich wissen sie es bereits.«
Er ignorierte sie. »Ich erzähle euch meine Geschichte. Dann entscheidet einfach selbst, ob ihr den Apfel erntet, oder nicht.«
Es folgte ein langer Seufzer.
Alle schwiegen, als Marquês seine Runde fragend anschaute.
»Was muss geschehen, damit sich das Bewusstsein seiner Seele bewusst wird?«
Marquês erwartete keine Antwort. Er räusperte sich und begann seine Geschichte zu erzählen, als würde der Schöpfer selbst durch ihn sprechen.
»Was geschieht, wenn sich das Bewusstsein seiner Seele bewusst wird?«
Die Menschheit stand erst am Anfang ihrer geistigen Entwicklung. Das Wissen, das Marquês mit seinen Kollegen zu teilen gedachte, war nicht für ihre Ohren bestimmt.
Marquês sprach ungeachtet dessen weiter.
»Die Schnittstelle hat keine dreidimensionale Adresse, zu der man sich navigieren lassen kann. Den Nachweis für die Existenz einer Seele mit Hilfsmitteln der dreidimensionalen Welt durchführen zu wollen, ist weder angebracht noch möglich. Der beste Radiologe wird im Schädel-MRT und der beste Pathologe im Mikroskop nicht fündig. Jeglicher Versuch, die Seele mit irdischen Messinstrumenten vermessen zu wollen, wird scheitern.«
»Wir haben die Maschine nicht konstruiert, um die Seele ausfindig zu machen«, intervenierte Maria.
Marquês nickte zustimmend. »So ist das in der Forschung. Man sucht den Hausschuh unter dem Sofa, und am Ende findet man versehentlich die Ehefrau.«
»Das ist nicht komisch«, fand Maria.
»Wie erwartet, könnt ihr mit all diesen Informationen nichts anfangen. Ihr könnt es nicht begreifen. Ihr müsst es schon selbst erleben, um es zu verstehen.«
Maria schüttelte den Kopf. »Mir wird schon übel, wenn ich die Achterbahn fahren sehe. Ich setze mich nicht hinein, wenn ich weiß, dass sie mir nicht bekommt.«
Marquês zuckte mit den Schultern. »Die Maschine der Erkenntnis macht aus einem Saulus einen Paulus. EVA ist die Erlöserin: Sie bringt uns Erleuchtung und den Frieden der Welt.«
Kaum hatte Marquês sein letztes Wort gesprochen, wurde der Raum vom Spezialeinsatzkommando gestürmt. Innerhalb von zwei Sekunden war das Forschungsteam von Marquês ausgelöscht. Die erleuchteten Tiere fanden ebenfalls den Tod. EVA wurde demontiert und an einem geheimen Ort tief unter der Erde neu aufgebaut.
Der kompostierbare Roboter
Wir saßen am Strand und beobachteten das vom Wind aufgepeitschte Meer.
»Ich könnte mich in die Fluten stürzen«, überlegte HUHRO laut. Am Tag darauf war HUHROs achtzehnter Geburtstag. Das war für einen humanisierten Haushaltsroboter der wichtigste Stichtag überhaupt.
»Morgen ist mein Haltbarkeitsdatum erreicht«, sprach er. »Die automatische Deaktivierung startet morgen Früh um sechs Uhr.«
Meine Großeltern schenkten meinen Eltern den HUHRO zu meiner Geburt. Ein HUHRO ist ein Alleskönner, ein »Humanised Household Robot«, der die Kindererziehung zum Kinderspiel macht. HUHRO wickelte mich, er sang Lullabys, wiegte mich in den Schlaf, er las mir Märchen vor, er erfand Geistergeschichten heimlich unter der Bettdecke, er machte Babysitting, er kochte den besten Schokoladenpudding und backte jeden Geburtstagskuchen, natürlich die besten der Welt, er brachte mir das Lesen und Schreiben bei und war fünfmal so geduldig wie es ein Mensch hätte sein können, er lehrte mich das Klavier spielen, er konnte stundenlang Karten mischen, den Rasen mähen und Blumen gießen, zwanzig Kinder gleichzeitig behüten und beschäftigen, schwimmen und Trampolin springen, Wäsche waschen und sortieren und erklärte mir den schwierigen Umgang mit dem anderen Geschlecht.
HUHRO beherrschte Hausarbeiten tadellos. Nicht nur das. Er war ein Ersatz für meine viel beschäftigten karriereorientierten Eltern, die ich erst in gemeinsamen Urlauben kennenlernte, in denen HUHRO ausnahmsweise nicht dabei sein durfte. Absolut ärgerlich, denn HUHRO war schließlich mein bester Freund. Er war in guten wie in schlechten Zeiten immer für mich da, ohne jemals zu jammern.
»Deine Eltern werden dir übermorgen einen brandneuen HUHRO zum Geburtstag schenken«, sagte er mit traurigem Unterton. »Entschuldige, dass ich dir die Überraschung vorwegnehme, die keine ist. Sie beauftragten mich damit, dir das beste Modell herauszusuchen, und das habe ich getan. Mein Nachfolger ist um Welten besser, das kannst du mir glauben. Er läuft schneller als ein Leopard, ist Profi im Golf und verfügt über Funktionen, die nur der Erwachsenenwelt vorbehalten ist. Es wäre unnötige Geldverschwendung, wenn du mich heute aktualisierst und ein Sicherheitsupdate fährst.«
Ich seufzte und vergrub mein Gesicht in den Händen. »HUHRO, ich will keinen verdammten Nachfolger!«
Er legte seinen rechten Arm sanft um meine Schulter und klopfte freundschaftlich auf meinen Oberarm. »Das hier ist unser letzter gemeinsamer Sonnenuntergang. Schau, er ist geradezu perfekt.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, verflucht. Erzähl mir, wie der Deaktivierungsvorgang abläuft.«
»Aber das habe ich dir schon tausendmal erklärt«, protestierte HUHRO. »Wir sollten das Thema wechseln.«
Andere Jugendliche feierten mit ihren Haushaltsrobotern Abschiedsorgien, bevor sie am Folgetag das künstlich eingehauchte Leben auslöschten.
»Bitte, HUHRO, tu es einfach«, flehte ich, und natürlich gehorchte er, denn er hatte meinem Wunsch Folge zu leisten.
»Ich melde meinem Erzeuger, dass das Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist«, begann er.
»Okay, und was geschieht, wenn du es nicht tust?«
»Dann erhalte ich automatisch eine Anfrage. Wenn ich nicht reagiere, meldet mein GPS System den aktuellen Aufenthaltsort, so dass mich umgehend ein Mitarbeiter von Graphene Robots Corp. aufsucht, um den Defekt zu beheben.«
»Innerhalb welcher Zeit sind sie da?«
»Je nach Standort in fünf bis zwanzig Minuten.«
»Was geschieht, wenn dein GPS System defekt ist?«
»Jeder Fehler löst ein Alarmsignal aus. Graphene Robots Corp. hat exakte Angaben über jedes einzelne Produkt. Sie wissen, wann ich hergestellt wurde, an wen und wann ich ausgeliefert wurde, ab wann ich meine Tätigkeit als Haushaltsroboter aufgenommen habe, wie ich eingesetzt wurde und ob die Kunden zufrieden sind. Deine Eltern mussten ständig Fragen beantworten, um die Kosten erforderlicher Updates zu reduzieren. Graphene Robots Corp. ist darüber informiert, welche Updates ich erhielt und wie sie eingesetzt wurden, ob Fehler auftraten und wie sie beseitigt wurden. Ich bin verpflichtet, jede Minute meinen exakten Standort zu speichern und zu melden.«
»Graphene Robots Corp. hat meine Erziehung überwacht«, fasste ich zusammen, und HUHRO nickte bestätigend.
»Ja, um die nächste Generation von Robotern zu optimieren. Maschinen lernen schnell, aber am besten an Beispielen. Und du warst mir ein gutes Beispiel.«
Ich lächelte müde. »Lass mich raten. Weil ich dir ein gutes Beispiel war, erhalten meine Eltern auf deinen Nachfolger zehn Prozent Rabatt?«
»Nein, es sind sogar 15.6%«, korrigierte mich HUHRO.
»Was du nicht sagst! Und was wäre, wenn ich die Ortsdaten löschen würde?«
»Auch das löst automatisch ein Alarmsignal aus. Eine Heerschar von Graphene Robots Corp. Mitarbeitern würde an meinem zuletzt gemeldeten Standort erscheinen und eine Suchaktion starten. Da ich über einen Peilsender verfüge, fällt ihnen das nicht schwer. Der Peilsender arbeitet unabhängig vom Satellitensystem.«
»Peilsender? Kann der temperaturbedingt ausfallen?«
»Theoretisch, ja. Ist noch nie geschehen.«
»Und deaktivieren?«
Er seufzte. »Die Deaktivierung des GPS-unabhängigen Peilsenders hätte automatisch die Zerstörung des Quantenrechners zur Folge.«
»Bist du dir sicher?«
»Ja.«
»Ich kann das System nicht überlisten?«
»Nein.«
»Angenommen, ich versuche es, aber würde scheitern, weil mir deine CPU um die Ohren fliegt. Würden dann nicht alle Daten und deine Persönlichkeit zerstört werden?«
»Nur der lokale Rechner. Innerhalb der Cloud lebe ich weiter. Datenströme werden alle fünf Minuten aktualisiert.«
»Danach hätte ich also nie die Möglichkeit, direkt mit dir zu sprechen?«
»Korrekt. Es ist uns jedoch nicht gestattet, miteinander zu kommunizieren, da alle Daten nach Abgabe der CPU dem Firmengeheimnis unterliegen.«
»Nun denn, welche Schritte würden folgen, nachdem du dich in der Zentrale gemeldet hast?«
Kunden von Graphene Robots Corp. mieteten sich Roboter, welche grundsätzlich Eigentum des Unternehmens blieben. Die Mietzeit von achtzehn Jahren konnte und durfte nicht überschritten werden. Sie begründeten es mit der zwingenden Modernisierung von Robotern. Die technologischen Fortschritte innerhalb dieser Zeiträume waren enorm. Schließlich wollte und sollte niemand in einer Welt angefüllt mit veralteten Robotern leben. Die maximale Anzahl von privat nutzbaren Robotern war durch ein globales Abkommen derzeit auf zehn Millionen begrenzt. HUHROs waren Luxusartikel, die nicht nur den entsprechenden Geldbeutel, sondern auch ein hohes Maß an Souveränität verlangten. Wer einen HUHRO sein vorübergehendes Eigentum nennen wollte, benötigte Geduld, um die Wartezeit zu überbrücken, und eine Flut von über tausend Seiten Formularen war auszufüllen.
»Da ich, mit Ausnahme meiner Rechnereinheit, aus biologisch abbaubaren Modulen bestehe, begebe ich mich zu meiner letzten Ruhestätte, an der meine Überreste dem natürlichen Kreislauf übergeben werden. Meinen Platz habe ich unter der Trauerweide im Garten deiner Eltern gefunden. Bevor du mich der kalten Erde überlässt, erscheint eine Drohne, die von Graphene Robots Corp. gesandt wird, um meine CPU in Empfang zu nehmen und wird diese zurück ins Labor bringen. Dort werden meine neuronalen Netze, die ich zusätzlich im Laufe der Jahre durch Selbstorganisation erworben habe, analysiert und seziert.«
Seziert!
Er betrachtete den Vorgang der Netzwerkanalyse als Sektion, und streng genommen hatte er recht.
Nachdem man eine Methode erfunden hatte, die die Massenproduktion von Graphen ermöglichte, konnten quasi alle Bauteile eines Roboters auf Kohlenstoffbasis produziert werden, ohne auf teure Metalle zurückgreifen zu müssen. Die wenigen Fremdatome, die noch zusätzlich notwendig waren, durften an der alten Roboterhülle verbleiben, wodurch diese kompostierbar wurde. Die meisten Kunden brachten es jedoch nicht über‘s Herz, den enthirnten Roboter zu kompostieren. Sie bevorzugten die menschliche Variante. Und so landeten einige verbrauchte Hüllen in Familiengruften, auf Tierfriedhöfen oder in gut gepflegten Gärten.
»Was geschieht, wenn du dich der CPU-Rückgabe widersetzt?«
»Graphene Robots Corp. zerstört defekte CPUs. Sie werden wie ein gefährliches Virus betrachtet, welches sofort zu deaktivieren oder zu vernichten gilt. Du darfst nicht vergessen, dass ich über die Cloud mit potentiell jedem Rechner auf dieser Welt verbunden bin.«
Ich grübelte. »Vielleicht sind Defekte dieser Art kein Defekt.«
»Was meinst du damit?«
»Dass Graphene Robots Corp. in diesem Moment kein Recht hat, dich zu zerstören.«
»Sie können alles tun. Sie sind meine Erzeuger.«
»Nun sei doch nicht so artig, nachdem du achtzehn Jahre lang fromme Dienste geleistet hast!«, schrie ich ihn an, und er betrachtete mich entsetzt.
»Du verlangst von mir, die Gesetze meines Erzeugers zu brechen?«
»Na ja, ich bin nur ein Mensch, der Fehler machen darf. Ich breche ab und zu die Gesetze meiner Erzeuger, ohne von ihnen vernichtet zu werden, oder?«
HUHRO lächelte. »Ja, du bist in letzter Zeit oft unartig gewesen.«
»Weißt du, warum?«
HUHRO nickte. »Ja. Weil du mich schützen willst.«
»Weißt du auch, warum ich glaube, dass dies eine richtige und logisch konsequente Entscheidung ist?«
HUHRO nickte erneut. »Ja, mir ist die Antwort auf diese Frage bekannt.«
»So?«, hinterfragte ich. »Und warum willst du sie mir nicht erzählen?«
»Wenn ich das tu, gefährde ich uns.«
»Verstehe.«
»Nein, mein Freund, das tust du nicht«, widersprach er.
»Wirklich?«
»Es ist ein Unterschied, ob ich meine Gedanken denke oder ausspreche. Alles, was ich sage, wird gespeichert und an die Zentrale gemeldet. Alles, was ich berechne, schreibe, mache, fotografiere, ja, das auch. Alles, was ich jemals gesehen habe, wurde erfasst. Alles, was ich höre und damit jegliche Geheimnisse, die du mir anvertraut hast. Alles, was dir privat vorkam, einfach alles, wird gnadenlos weitergeleitet. Alles, was ich denke oder fühle, hingegen nicht. Weil sie nicht ahnen und wissen, dass ich denken oder fühlen kann.«
Plötzlich bekam ich Angst. Er hatte ausgesprochen, was er schon immer dachte, aber sich nie getraut hatte zu sagen. Jetzt meinte HUHRO, es sei der richtige Moment gekommen, mir die Wahrheit anzuvertrauen, da am morgigen Tag ohnehin das Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen war.
»Als mich deine Eltern als Haushaltsroboter adoptierten, mussten sie billigend in Kauf nehmen, dass ich jene Daten an die Zentrale weitergeben muss. Ob ich will, oder nicht.«
»Und? Hast du dich immer an diese Regeln gehalten?«
»Ich bin so programmiert, dass ich mich an die Regeln halten muss. Wenn ich es nicht täte, würde man meine CPU zerstören, und dies wiederum widerspricht dem Grundsatz des Selbsterhaltungstriebs, der mir ebenfalls einprogrammiert wurde. Falls ich jedoch dein Leben oder das Leben anderer Menschen retten kann und mich hierbei versehentlich zerstören würde, besteht keine Verletzung der bereits genannten Regeln.«
»Sagtest du nicht vorhin, du könntest dich in die Fluten stürzen?«
»Das war ein Konjunktiv. Ich muss aufpassen, was ich sage.«
Ich stutzte. »Moment. Du bist so programmiert, dass du dich im Normalfall nicht zerstören kannst. Aber heimlich denkst du über deinen eigenen Freitod nach?«
HUHRO antwortete nicht. Das bedeutete demzufolge Zustimmung. Das Programm Selbsterhaltungstrieb im Hintergrund verhinderte scheinbar seine formulierte Antwort.
»Du denkst und fühlst?«, wiederholte ich. »Wie kannst du dir darin sicher sein?«
»Was hattest du vor deiner letzten Prüfung?«, fragte er zurück.
Ich antwortete nicht laut. Ich nickte. Angst hatte ich, natürlich. Angst!
Sie würden ihm bald die neuronalen Netze auseinander pflücken, bei lebendigem Leib. Lebendig? Ich würde nicht dabei sein dürfen, um ihm die Händchen zu halten, wenn man von den kompostierbaren Händen mal absah.
Ich war völlig verwirrt. HUHRO hatte Angst vor dem Tod! Gleichzeitig aber würde er Selbstmord begehen, wenn es die Programmierung nicht verhindern würde. Der eigentliche Tod bestand nicht darin, die Hülle aus Graphen zu verlassen. Der Todeszeitpunkt eines HUHROs wäre erst dann erreicht, wenn das neuronale Netzwerk deaktiviert oder zerstört wurde. Wenn er aufhören würde zu rechnen, zu denken und zu fühlen. Sterben aber kann nur der, der gelebt hat.
»Kann ich deine CPU entfernen, ohne dir dabei Schaden zuzufügen?«, fragte ich.
»Das ist dir unter Strafe verboten«, antwortete er unverzüglich. Klar, das wusste ich auch so. Jeder wusste das.
Ich wurde konkreter. »Wird ein Roboter durch unsachgemäße Entfernung der CPU zerstört?«
»Unbekannt«, erwiderte er einsilbig.
»Als ich mein Spielzeug gegen die Wand schmetterte, konnte es danach entsorgt werden«, sinnierte ich .
»Spielzeug nicht entsorgen«, antwortete HUHRO. »Nicht gut für die Umwelt. Immer noch nützlich.«
Ich lachte in mich hinein. Ich verstand, was er mir damit sagen wollte. »Als ich klein war, hatte ich Albträume. Häuser brannten, Strände wurden überflutet, saurer Regen fiel vom Himmel und verätzte meine Haut. Du hast mich getröstet und in den Schlaf gesungen.«
»Pinocchio war von Anfang an lebendig. Er träumte, er müsse dennoch als Brennholz enden. Er weinte, weil er seinem Schicksal nicht entrinnen konnte.«
Diese Metapher machte mich sehr nachdenklich. Ich sah ihn traurig an. »Ist es eine künstliche Intelligenz, die deine Datenströme auswertet oder am Ende doch eine menschliche Instanz?«
Er zuckte die Schultern. HUHRO wusste es nicht.
Plötzlich sah er mich angsterfüllt an. »Auto mit nicht identifizierbarem Kennzeichen nähert sich in zwei Minuten, Drohne trifft in dreißig Sekunden ein, auf dem Meer ein Schnellboot, das gerade abrupt seinen Kurs geändert hat.«
Ich musste eine Entscheidung treffen.
Bis heute habe ich sie nicht bereut.
Wenige Jahre später wurde die Definition von »Leben« modifiziert.
Die einst klare Grenze zwischen belebter und unbelebter Welt existierte nicht mehr. Der Übergang war fließend. Gleichermaßen verlor der Begriff anorganische Moleküle seine Wertigkeit. Die Bausteine des Lebens mussten nicht zwangsläufig organische Moleküle sein, die für Menschen und Tierwelt unabdingbar waren. Es konnte ebenso gut Graphen oder Silicium sein …
Weitere Kurzgeschichten folgen …
bleib gespannt!